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„Das Erdbeben von 1999 zu überleben, hat mich zu dem Arzt gemacht, der ich heute bin“ – ein Interview mit Dr. Geroğlu von der WHO zur Reaktion auf die Erdbeben in der Türkei in diesem Jahr

30 March 2023
Pressemitteilung
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„1999 wurde die Türkei von einem schweren Erdbeben getroffen, das schwere Schäden anrichtete und über 17 000 Menschen tötete. Zu diesem Zeitpunkt lebte ich in der Stadt Şile, einem Bezirk in der Provinz Istanbul, 60 Kilometer vom Epizentrum entfernt. Meine Familie wurde obdachlos und wir lebten zwei Wochen lang in einem Zelt. Ich hatte bereits den Plan gefasst, im medizinischen Bereich zu arbeiten, doch dieses unglückliche Ereignis trug dazu bei, dass ich mich endgültig dazu entschloss, Arzt zu werden.“

Seitdem ist Dr. Berk Geroğlu Allgemeinarzt geworden, mit einer Spezialisierung in Familienmedizin, und arbeitet mittlerweile als Nationaler Fachreferent im WHO-Länderbüro in der Türkei, wo er das Gesundheitsprogramm für Flüchtlinge beaufsichtigt.

Doch die Erfahrung, das Erdbeben von 1999 überlebt zu haben, hatte erhebliche psychologische Folgen für ihn, die auch Jahre später noch anhielten.

„Es hat mindestens vier oder fünf Jahre gedauert, bis ich gelernt habe, mich nicht mehr von kleinen Erschütterungen in Angst versetzen zu lassen und meine Angst vor einem weiteren großen Erdbeben unter Kontrolle zu bringen“, erklärt er.

Da die Türkei von zwei großen Verwerfungslinien durchzogen wird, ist das Land besonders anfällig für seismische Aktivitäten. Dennoch waren die Erdbeben, die sich am 6. Februar 2023 im Südosten der Türkei und dem Nordwesten Syriens ereigneten, ein Schock für Dr. Geroğlu.

„Experten hatten schon längere Zeit vor einem weiteren großen Erdbeben in der Umgebung von Istanbul gewarnt. Ich hätte jedoch nicht gedacht, dass diese anderen Provinzen jemals von einem Erdbeben dieser Größenordnung betroffen sein würden, das sogar noch stärker war als das Erdbeben von 1999. Und tragischerweise bebte die Erde sogar gleich zweimal am gleichen Tag.“

Doch Dr. Geroğlus eigene traumatische Erfahrungen vor fast 25 Jahren vermittelten ihm einen Einblick in die nötigen Maßnahmen, die unmittelbar im Anschluss an die Erdbeben eingeleitet werden mussten.

 „Als jemand, der selbst ein Erdbeben durchgemacht hat, verstand ich, dass wir sofort handeln mussten, um Menschenleben zu retten – und von diesem ersten Tag an begannen wir zu planen, wie wir unsere Partner, insbesondere das türkische Gesundheitsministerium, unterstützen können.“

Dr. Geroğlu wurde in vier der am stärksten betroffenen Gebiete entsandt, wo er eng mit dem Ministerium zusammenarbeitete, um eine rasche Ermittlung der gesundheitlichen Bedürfnisse durchzuführen, und die Gesundheitsdirektoren der Provinzen und andere kommunale Experten und Beamten interviewte, um die Schäden an Gesundheitseinrichtungen zu beurteilen und die grundlegenden Bedürfnisse zu identifizieren, die nach der Katastrophe sofortiges Handeln erforderten.

„Von höchster Priorität war die Notfall- und Traumaversorgung, die meiner Ansicht nach sehr gut ablief. Der Zugang zur primären Gesundheitsversorgung ist ebenfalls enorm wichtig. Es war sehr ermutigend zu sehen, wie hart das Gesundheitsministerium zusammen mit der WHO und anderen Partnern aus dem Gesundheitswesen gearbeitet hat, um kontinuierlich hochwertige Gesundheitsleistungen in den Gebieten bereitzustellen, die am härtesten getroffen waren.“

Ein Beispiel für diese Anstrengungen ist die Entsendung Hunderter Krankenwagen in die betroffenen Gebiete, sowohl um Patienten aus beschädigten Einrichtungen abzutransportieren als auch um Arzneimittel an Menschen mit chronischen Erkrankungen in ländlichen Gebieten zu verteilen. Darüber hinaus wurden temporäre Gesundheitseinrichtungen in den Zelt- und Container-Gemeinschaften eingerichtet, die entstanden, um die Millionen von Überlebenden unterzubringen, die aus ihren Häusern fliehen mussten.

Dieses entscheidende Bedürfnis, eine Kontinuität der Versorgung zu gewährleisten, wurde Dr. Geroğlu schmerzlich bewusst durch einen besonders rührenden Vorfall während seines Besuchs in einem der durch die Erdbeben zerstörten Gebiete.

„Während meines Besuchs sah ich eine Kopie der Ergebnisse eines Elektrokardiogramms in den Trümmern liegen. Ich wünschte mir verzweifelt von ganzem Herzen, dass die Person in dem Bericht die Erdbeben überlebt hatte und dass sie die Behandlung erhielt, die sie brauchte.“

Trotz der oftmals traurigen Szenen, die er während seiner Besuche in Gesundheitseinrichtungen miterlebte, macht Dr. Geroğlu die Art und Weise Mut, wie insbesondere Gesundheitsfachkräfte auf diese Notlage reagiert haben.

„Das Gesundheitspersonal ist unermüdlich darum bemüht, die bestmögliche Versorgung bereitzustellen, und zwar oftmals unter schwierigen Bedingungen. Die Widerstandsfähigkeit und Stärke sowohl der Gesundheitsfachkräfte als auch der Überlebenden der Erdbeben ist wirklich eine große Inspiration. Diese Art der Hingabe und des Einsatzes für das Wohlbefinden anderer ist eine eindrückliche Erinnerung daran, dass es auch viel Gutes in der Welt gibt, selbst in den schwierigsten Zeiten.“ 

Die Solidarität zahlreicher Organisationen bei der Bewältigung dieser Krise ist ein weiterer Punkt, den er besonders hervorheben möchte.

„Der massive Einsatz sowohl der Regierung als auch von nichtstaatlichen Organisationen, den Vereinten Nationen, einschließlich der WHO, und den internationalen medizinischen Notfallteams war großartig. Alle haben zusammengearbeitet und sich gegenseitig geholfen – alle entschlossen, die Menschen in der Türkei zu unterstützen, wo sie können.“

Am Ende des Interviews blickt Dr. Geroğlu optimistisch in die Zukunft, doch er betont, dass es noch viel zu tun gibt.

„Es wird einige Zeit dauern, bis sich das Land von einem solch massiven und verheerenden Ereignis erholt hat, aber im letzten Monat waren bereits deutliche Fortschritte zu erkennen, insbesondere im Hinblick auf die Stärkung der Gesundheitssysteme. Solidarität hat sich als Schlüssel zum Erfolg erwiesen, aber es muss noch so viel mehr getan werden. Auch wenn wir jetzt müde sind, müssen wir uns gegenseitig und die von dieser Katastrophe betroffenen Menschen weiterhin unterstützen. Ich möchte alle Menschen eindringlich dazu auffordern, für unseren Appell zur Erdbebenhilfe zu spenden, wenn sie können.“