Am 26. April 1986 kam es bei einem Sicherheitstest in Reaktor 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl in der Ukraine zu einem katastrophalen Fehler. Die daraus resultierende Explosion und das darauf folgende Feuer setzten riesige Mengen an radioaktivem Material in die Atmosphäre frei und lösten eine der schlimmsten Nuklearkatastrophen der Geschichte aus.
Die Folgen waren tiefgreifend – mit massiven Auswirkungen für die menschliche Gesundheit, die Ökosysteme und die Gesellschaft. Zwar wurden weniger als 50 unmittelbare Todesfälle direkt auf die Strahlenbelastung zurückgeführt, vor allem bei Ersthelfern, doch litten Tausende andere Menschen seitdem unter den Folgen potenziell lebensbedrohlicher strahlenbedingter Krankheiten.
Die radio-nukleare Katastrophe in Tschernobyl und Ereignisse wie der Dioxin-Unfall 1976 in Seveso (Italien) oder die Nowitschok-Vergiftungen 2018 in Salisbury (Vereinigtes Königreich) zeigen deutlich, dass die Vorsorge für chemische, biologische, radiologische und nukleare (CBRN-)Ereignisse für die Wahrung der nationalen Gesundheitssicherheit unerlässlich ist.
Doch ob absichtlich oder versehentlich herbeigeführt, solche Ereignisse können auch verheerende grenzüberschreitende Auswirkungen haben. Naturkatastrophen wie Überschwemmungen können zum Austreten von Chemikalien führen, die die Wasserversorgung verseuchen, während bewaffnete Konflikte wie der anhaltende Krieg in der Ukraine die Anfälligkeit nuklearer und chemischer Anlagen und damit das Risiko katastrophaler Freisetzungen erhöhen.
Angesichts dieser Bedrohungen arbeiten die WHO und ihre Partner mit Ländern in der gesamten Europäischen Region zusammen, um deren Kapazitäten zur Erkennung und Minderung von sowie Reaktion auf CBRN-Risiken zu stärken.
Diese Arbeit ist ein zentraler Bestandteil der Maßnahmen im Rahmen von Vorsorge 2.0, der von den Mitgliedstaaten entwickelten Strategie der Europäischen Region für die Notfallvorsorge und -reaktion. Maßnahmen zur Stärkung der CBRN-Vorsorge sind in der Ukraine und den umliegenden Ländern, in denen das Risikoprofil aufgrund des Krieges erhöht ist, besonders dringend.
Aufbau von CBRN-Kompetenzen für stärkere Gesundheitssysteme
Die Bewältigung von CBRN-Bedrohungen, die traditionell in den Bereich der militärischen Strategie fiel, ist mittlerweile ein integraler Bestandteil der zivilen öffentlichen Gesundheit und der Notfallvorsorge. Vor allem die Gesundheitssysteme stehen bei den Vorsorgemaßnahmen an vorderster Front.
„Die meisten Länder und die meisten Gesundheitssysteme verfügen über einen Notfallplan, der einem gefahrenübergreifenden Ansatz folgt, doch die Komplexitäten eines CBRN-Vorfalls sind einzigartig“, erklärt Graham Finnigan, Fachreferent für das Programm für gesundheitliche Notlagen bei WHO/Europa.
„Darunter fallen etwa der Zugang zu persönlicher Schutzausrüstung, der Zugang zu spezifischen medizinischen Gegenmaßnahmen in Form von Gegenmitteln oder einfach nur das Verständnis der zur Dekontaminierung einer Person genutzten Technik. Hinzu kommt die Versorgung gefährdeter Bürger. Da es bei der Bewältigung eines CBRN-Ereignisses so viele Nuancen gibt, ist es wichtig, etwas genauer zu erläutern, wie man sich vorbereitet, wie man trainiert und wie man sicherstellt, dass man über die nötigen Kompetenzen verfügt.“
Graham leitet eine wichtige Initiative der WHO namens „CBRN in Action“ [dt. CBRN in der Praxis], die von der Generaldirektion Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (GD SANTE) der Europäischen Kommission im Rahmen des Programms EU4Health finanziert wird. Das Projekt unterstützt die Ukraine und ihre Nachbarländer bei der Verbesserung ihrer nationalen und grenzübergreifenden Präventions- und Vorsorgerahmen. Außerdem stärkt es die Krisenkoordination, die Überwachung der öffentlichen Gesundheit und die Frühwarnsysteme – wichtige Säulen der globalen Gesundheitssicherheit.
Antonio Parenti, Direktor für öffentliche Gesundheit, Krebs und Gesundheitssicherheit in der GD SANTE, bestätigt, dass die Europäische Kommission die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) und ihre Nachbarländer durch die Zusammenarbeit mit WHO/Europa weiterhin im Hinblick auf die Vorsorge und Reaktionskapazitäten für CBRN-Ereignisse unterstützt.
„Durch die Kooperation mit WHO/Europa geht die Kommission davon aus, die EU-weiten Kapazitäten zur Erkennung von CBRN-Ereignissen durch die Konsolidierung von drei Hauptbereichen verbessern zu können: die Identifizierung von Laboratorien und Testsystemen, die Entwicklung des Konzepts von Überwachung und Berichterstattung in Einklang mit dem Frühwarn- und Reaktionssystem der EU (EWRS) und die Verbesserung der Kapazitäten der Gesundheitsbehörden zur Untersuchung von Ausbrüchen unbekannten Ursprungs durch spezielle Schulungen.“
Durch praktische Schulungen, Simulationsübungen und fachliche Workshops baut die Initiative „CBRN in Action“ die Kompetenzen von Fachkräften aus dem öffentlichen Gesundheitswesen aus, um besser mit der komplexen Realität dieser Art von Bedrohungen umgehen zu können. Sie stärkt die medizinischen Vorsorge- und Reaktionssysteme an vorderster Front – wie etwa medizinische Notfallteams, Infrastrukturen für die medizinische Evakuierung und die Bereitschaft von Krankenhäusern, als Erstversorger zu fungieren – und fördert gleichzeitig eine wirksame Risikokommunikation, damit Gemeinschaften ruhig und angemessen reagieren können.
„Das Problem mit CBRN ist, dass es vielen Menschen Angst macht“, sagt Graham. „Aber wenn man gut ausgebildet und gut ausgerüstet ist, kann man schneller auf CBRN-Vorfälle reagieren. Wenn man die richtigen Botschaften und die richtigen Systeme einsetzt, kann man die Auswirkungen minimieren... Es geht darum, wie man damit umgeht, wie man darauf reagiert und wie man die Öffentlichkeit informiert.“
Vorsorgemaßnahmen in der gesamten Europäischen Region
Die jüngsten Aktivitäten im Rahmen des Projekts „CBRN in Action“ haben unmittelbar zur Verbesserung der Gesundheitssicherheit beigetragen.
Im März wurde im Rahmen eines Pilotprogramms in Polen der „Hospital Safety Index“ [dt. Index für Krankenhaussicherheit], ein Instrument zur Bewertung der Sicherheit und von Schwachstellen in Krankenhäusern, um eine neue CBRN-Komponente erweitert. In der Ukraine ist die Bewältigung potenzieller Risiken in Zusammenhang mit chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Bedrohungen ein wesentlicher Bestandteil der nationalen Strategie für die Gesundheitssicherheit des Landes. Daher wurde im April ein Workshop zum Thema Notfallplanung für Krankenhäuser für medizinisches Personal aus den vom Konflikt betroffenen Gebieten des Landes abgehalten, um die Krankenhäuser bei der Entwicklung von gefahrenübergreifenden Notfallplänen zu unterstützen, die ein starkes CBRN-Element enthalten, um die lokalen Risikobewertungen zu berücksichtigen. Diese Pläne werden als Vorlagen für andere Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land sowie für nationale und regionale Behörden in der gesamten EU dienen.
„Die WHO in der Ukraine unterstützt die Stärkung der nationalen Kapazitäten für eine rasche und wirksame Reaktion auf potenzielle Bedrohungen und fördert gleichzeitig die ressortübergreifende Zusammenarbeit zwischen allen an Notfallmaßnahmen beteiligten Akteuren“, erklärte Dr. Jarno Habicht, Repräsentant der WHO in der Ukraine.
„Dies umfasst die Entwicklung zuverlässiger Nachweissysteme, den Ausbau der Laborkapazitäten für die rasche Identifizierung von CBRN-Bedrohungen, die Umsetzung wirksamer Notfallprotokolle und die Schulung des Gesundheitspersonals. Seit 2022 hat die WHO über 3400 Gesundheitsfachkräfte und Ersthelfer in der Bewältigung chemischer und radiologischer Vorfälle geschult und regionale Ausbilder mit den Fähigkeiten ausgestattet, fortschrittliche Instrumente einzusetzen und zu bedienen“, so Habicht weiter.
Das Vermächtnis von Tschernobyl würdigen und für die Zukunft vorsorgen
Das Nationale Forschungszentrum für Strahlenmedizin, Hämatologie und Onkologie der Ukraine – ein WHO-Kooperationszentrum und Mitglied des Netzwerks für medizinische Vorsorge und Hilfe bei Strahlenunfällen (REMPAN) – hat im Rahmen umfassenderer Bemühungen zur Stärkung der CBRN-Vorsorge eine führende Rolle übernommen. In Zusammenarbeit mit dem WHO-Länderbüro in der Ukraine und dem WHO-Hauptbüro hat das Zentrum ein nationales Schulungsprogramm zur radio-nuklearen Vorsorge durchgeführt und damit zwischen Februar 2023 und Januar 2025 insgesamt 425 Fachkräfte in 28 Fachkursen geschult.
Mit Unterstützung des Projekts „CBRN in Action“ hat das Zentrum zudem seine Schulungskapazitäten durch die Anschaffung modernster Strahlungsmessgeräte verbessert. Anlässlich des 39. Jahrestags der Katastrophe von Tschernobyl veranstaltete das Zentrum am 28. April 2025 unter hochrangiger Beteiligung eine Eröffnungsfeier für sein neu ausgestattetes Schulungszentrum. Zu den Teilnehmern gehörten Vertreter des ukrainischen Gesundheitsministeriums, der Europäischen Kommission, der nationalen medizinischen Notdienste, der Nationalen Medizinischen Oleksandr-Bohomolez-Universität, von nichtstaatlichen Organisationen, die sich schwerpunktmäßig mit Tschernobyl befassen, sowie von drei Oblasten, die entweder besonders gefährdet sind oder an der Frontlinie liegen (Saporischschja, Chmelnyzkyj und Riwne).
CBRN-Vorsorge stärkt die Gesundheitssicherheit
Da die Europäische Region der WHO nach wie vor mit neu auftretenden Risiken konfrontiert ist
– von Kriegen bis hin zu klimabedingten Katastrophen – geht es bei Investitionen in die CBRN-Vorsorge nicht nur um Krisenreaktion. Es ist ein proaktiver Schritt hin zu stärkeren, widerstandsfähigeren Gesundheitssystemen, die die Bevölkerung grenzübergreifend schützen, künftige Generationen bewahren und sicherstellen können, dass Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden.