Der zehnjährige Roman Oleksiv ist ein Überlebenskünstler. Im Juli 2022 warteten er und seine Mutter Halyna in der ukrainischen Stadt Winnyzja auf einen Arzttermin, als Raketen in die Klinik einschlugen. Bei dem Angriff wurden 26 Menschen getötet, darunter auch Halyna. Roman konnte aus den Trümmern des Gebäudes herauskriechen, aber aufgrund der inneren Verletzungen und der Verbrennungen an 45 % seines Körpers standen die Chancen für den Jungen schlecht.
Doch Roman hatte Glück. Innerhalb weniger Tage wurde er durch ein damals neu geschaffenes Programm für medizinische Evakuierungen (Medevac), das vom ukrainischen Gesundheitsministerium mit Unterstützung von der WHO und verschiedenen Mitgliedstaaten sowie von Partnern aus der Europäischen Union (EU) eingerichtet worden war, zur fachärztlichen Versorgung ins Ausland gebracht.
Seitdem hat ein strukturiertes Medevac-System, das mit finanzieller Unterstützung der EU und des österreichischen Gesundheitsministeriums geschaffen wurde, mehr als 5000 Patienten wie Roman den Zugang zu lebenswichtigen Behandlungen im europäischen und außereuropäischen Ausland ermöglicht.
Jeder Tag zählt
Roman benötigte dringend fachärztliche Hilfe, die in der Ukraine nicht verfügbar war. Die Medevac-Koordinierungsstelle des Gesundheitsministeriums wandte sich mit einer Anfrage an ein multinationales Netzwerk, und das Universitätsklinikum in Dresden erklärte sich bereit, ihn aufzunehmen.
Jonathan Vinke, ein erfahrener Rettungssanitäter aus dem Team, das Roman während seiner Überführung versorgte, erinnert sich an die Komplexität dieser schwierigen Aktion: „Roman befand sich in einer prekären Lage. Er hatte so schwere Verbrennungen erlitten, dass er betäubt und beatmet werden musste, um die Reise von Winnyzja nach Lwiw und dann über die Grenze nach Rzeszów in Polen zu überstehen.“
„Der Sauerstoffbedarf war sehr hoch, und die Grenze wurde gerade dann geschlossen, als wir sie ohne Vorankündigung passieren wollten. Dadurch dauerte unsere Fahrt etwa zwei Stunden länger als erwartet, und bei schwierigeren Straßenverhältnissen. Der Krankenwagen musste langsam und vorsichtig fahren, um Roman nicht in Bedrängnis zu bringen. Doch dank der detaillierten Planung und des hervorragenden Teams konnte die Situation bewältigt und Roman sicher an das Flugzeug übergeben werden.“
Von Polen aus wurden Roman und sein Vater Jaroslav mit einem von der Deutschen Flugambulanz bereitgestellten Spezialflugzeug für den Transport von Intensivpatienten nach Deutschland geflogen.
Zwei Wochen lang lag Roman im Koma. Aufgrund des Ausmaßes seiner offenen Verbrennungen bekam er außerdem Fieber und eine gefährliche Infektion. Eines Abends erhielt Jaroslav einen Anruf, er solle schnell ins Krankenhaus kommen. Da er das Schlimmste befürchtete, eilte er sofort hin, stellte aber dann mit großer Erleichterung fest, dass sein Sohn die Augen geöffnet und nach einem Verwandten gefragt hatte.
„Als ich aufwachte, rief ich laut, und dann kam eine Krankenschwester, aber sie sprach nur Deutsch, und ich konnte sie nicht verstehen“, erinnert sich Roman. „Zuerst wusste ich nicht, wo ich war – ich dachte, ich wäre noch in der Ukraine. Dann sah ich, dass ich überall Verbände hatte, und ich erinnerte mich an das, was passiert war, und mir wurde klar, dass ich im Ausland war. Ich war so froh, als mein Vater kam.“
Trotz des Schocks lernte Roman bald die Freundlichkeit und Hingabe des Krankenhauspersonals zu schätzen. „Ich möchte mich bei den deutschen Ärzten für ihre Unterstützung und Hilfe bedanken. Sie sind für mich wie eine Familie geworden, und ich habe sie so lieb“, sagt er.
Roman verbrachte über 100 Tage auf der Intensivstation und musste seit dem Tag des Angriffs 35 Operationen, vor allem Hauttransplantationen, über sich ergehen lassen. Während dieser Zeit musste er eine spezielle Maske und Kompressionsverbände tragen, um Narbenbildung zu vermeiden. Doch trotz der erstklassigen Behandlung warnten die Ärzte, dass er möglicherweise nie wieder laufen könne.
Nach Hause kommen und der Traum, einmal Tänzer zu werden
Doch Roman und seine Betreuer hielten durch. Während des extrem anstrengenden Krankenhausaufenthalts und der körperlichen Rehabilitation ließ Romans Leidenschaft für das Tanzen und das Akkordeonspiel ihn nicht den Mut verlieren. Sein Vater erzählt, das Tanzen habe Romans Balance und Muskelkraft verbessert, und die komplexe Fingerarbeit beim Üben von Melodien auf dem Akkordeon habe die Flexibilität seiner vernarbten Hände verbessert.
Ende 2024 konnte Roman schließlich seine Maske ablegen. Roman und sein Vater sind jetzt zurück in der Ukraine, wo sich der Junge nach einer langen Reihe von medizinischen Eingriffen erholt.
„Roman ist so glücklich, zurück zu sein. Seine Augen leuchten. Er hat Freunde aus dem Tanzkurs und in der Schule. Er kann wieder die Dinge tun, die er mag“, sagt Jaroslav. Vor Kurzem gewann Roman sogar bei einem internationalen Akkordeonwettbewerb den ersten Preis.
„Das ist es, was ich mir für ihn gewünscht habe. Etwas, für das es sich zu leben lohnt, etwas, für das man sich begeistern kann. Es bringt ihn von innen heraus zum Leuchten“, fügt sein Vater hinzu.
Rettungssanitäter Jonathan Vinke hat Roman vor Kurzem im Krankenhaus in Lwiw wiedergetroffen. Abgesehen von seiner körperlichen Verwandlung konnte Roman ihn nun auch in Jonathans Muttersprache begrüßen und sich mit ihm unterhalten.
„Ein unglaublicher Junge“, schwärmt Jonathan. „Als ich ihn zum ersten Mal traf, stand sein Leben auf der Kippe. Aber dank der Pflege, die er in Deutschland erhielt, und dank seiner eigenen Widerstandskraft konnte er, als ich ihn wiedersah, gehen und tanzen und seine Träume verfolgen, und er hat jetzt ein Leben vor sich. Das zeugt von der Bedeutung des Medevac-Programms und von der Stärke des menschlichen Geistes.“
Romans Geschichte hat viele inspiriert. Im vergangenen Jahr tanzte er auf dem Vierten Gipfel der Ehepartner von Staatsoberhäuptern, an dem auch die ukrainische First Lady Selenska teilnahm. Es wurde sogar ein Kurzfilm mit dem Titel „Romchyk“ produziert, der von seinem Traum, Tänzer zu werden, handelt.
Roman erzählt begeistert vom Tischtennisspielen und seinen vielen Freundschaften von der Ukraine bis nach Deutschland – und von seiner Faszination für Autos. Er reflektiert auch über den Weg zu seiner Genesung und gibt einige Ratschläge: „Niemals aufgeben. Du weißt nie, was noch auf dich wartet. Manchmal denkst du vielleicht, dass der Weg so lang ist. Aber vielleicht kommst du schneller ans Ziel, als du denkst, oder du brauchst mehr Zeit, also musst du weitermachen und darfst nicht aufgeben.“
Zusammenarbeit entscheidend
Medevac wird durch die Zusammenarbeit mit einer Reihe von wichtigen Partnerorganisationen und Gebern der WHO ermöglicht. Eric Galvin ist Regionaler Programmleiter beim Dienst für außenpolitische Instrumente (FPI) der Europäischen Kommission: „Seit Januar 2023 arbeitet der FPI zusammen mit der WHO und ihren Umsetzungspartnern daran, den vom Katastrophenschutzverfahren der EU und anderen Akteuren geschaffenen Zyklus der medizinischen Evakuierung zu vervollständigen. Diese Unterstützung hilft zum Beispiel dem ukrainischen Gesundheitsministerium dabei, die Koordinierung innerhalb des Landes sicherzustellen, und finanziert einen Großteil der Patiententransporte“, erklärt er.
„Dank dieser Systeme können Patienten wie Roman nun in den EU-Mitgliedstaaten eine sichere und strukturierte Behandlung erhalten; so können sie überleben und wieder zu Kräften kommen“, erklärt Ihor Perehinets, Direktor für gesundheitliche Notlagen in der Europäischen Region bei WHO/Europa. „Wir sind allen Ländern, die Patienten aus der Ukraine aufgenommen haben, und allen Gebern, die diese Arbeit ermöglichen, zutiefst dankbar und betonen noch einmal, wie wichtig es ist, dass diese Bemühungen auch im nunmehr vierten Jahr des Krieges in der Ukraine fortgesetzt werden.“
Jaroslav, den Arm um seinen Sohn gelegt, schließt sich dieser Meinung an und bringt seine Dankbarkeit zum Ausdruck: „Wenn Roman nicht ins Ausland gebracht worden wäre, wäre er heute nicht hier bei uns. Das Medevac-Programm ist für viele andere Verletzte, vor allem auch Kinder, ungeheuer wichtig. Es rettet Menschenleben.“