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Der Kampf gegen das Unbekannte – die Geschichte einer Familie über das Leben mit Long COVID

19 July 2022
Als Claire Hastie, eine alleinerziehende Mutter von drei Jungen, am Muttertag im März 2020 mit Atemnot aufwachte, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. 

Die 47-jährige britische Werbetexterin hatte schon seit ein paar Tagen Halsschmerzen gehabt, doch als die Kurzatmigkeit schlimmer wurde und sie weitere Symptome entwickelte, die anders waren als alles, was sie zuvor erlebt hatte, wusste sie, dass es sich um COVID-19 handeln musste.

Dies war der Beginn einer Krankheit, von der Claire noch immer nicht genesen ist. 

Von fit und aktiv zu bewegungsunfähig


Vor diesem Zeitpunkt war Claire jeden Tag als Teil ihres Arbeitsweges 21 km Fahrrad gefahren und führte ein aktives und viel beschäftigtes Familien-, Arbeits- und Sozialleben. Doch nach ihrer COVID-19-Infektion entwickelte Claire Langzeitfolgen, die mittlerweile als Post-COVID-Syndrom oder Long COVID bezeichnet werden. 

Drei Monate lang war sie bettlägerig, fühlte sich zu unwohl, um ein Gespräch zu führen, zu lesen, fernzusehen oder sogar Musik zu hören, bedingt durch Müdigkeit, Reizüberflutung und die Unfähigkeit, Informationen zu verarbeiten. Sie hatte Schmerzen in der Brust, Herzrasen und war völlig durchgefroren. Insgesamt zählte sie über 40 Symptome, die sich im Laufe mehrerer Monate entwickelten.

Mehr als einmal wachte sie mitten in der Nacht auf mit Symptomen, die sich für sie wie ein möglicher Schlaganfall anfühlten: Taubheitsgefühl, Kribbeln und Bewegungsunfähigkeit. 

Die ganze Familie ist betroffen


Auch Claires Söhne steckten sich mit COVID-19 an. Ihr Ältester, Thomas, zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt, entwickelte alarmierend verfärbte und geschwollene „COVID-Zehen“, ein Symptom, das monatelang anhielt, obwohl es ihm ansonsten gut ging. Und das war ein Glück, denn er musste sich um seine Mutter und seine elf Jahre alten Zwillingsbrüder James und William kümmern. 

James litt an quälenden Gelenk- und Unterleibsschmerzen, Übelkeit und Durchfall, die nach wie vor etwa einmal im Monat auftreten und dazu führen, dass er in der Schule fehlt. William hatte täglich mit Nasenbluten zu kämpfen, sowie mit Schmerzen in der Brust und Müdigkeit, die nach wie vor seine Fähigkeit beeinträchtigen, zur Schule zu gehen. Ein Jahr nach seiner COVID-19-Infektion entwickelte er zudem häufige krampfanfallähnliche Episoden, die mit Sehstörungen, Druck im Kopf und Bewusstseinsverlust einhergehen. 
 
„Es bricht mir das Herz, meine Kinder so leiden zu sehen. Auch einige meiner Freunde haben Kinder, die seit über zwei Jahren mit Symptomen zu kämpfen haben. Niemand weiß, wie man uns helfen kann. Zum Glück ist mein ältester Sohn in der Lage, sich um uns zu kümmern – er kocht, putzt und macht die Wäsche.“
 

Unterstützung von anderen Betroffenen erhalten


Sieben Wochen nach ihrer Infektion richtete Claire eine Facebook-Support-Gruppe für Menschen ein, die – wie sie – nicht innerhalb des zu diesem Zeitpunkt in allgemeinen Leitlinien genannten Zeitrahmens genesen waren. 

Die von einem internationalen Verwaltungsteam moderierte Gruppe ist mittlerweile auf über 50 000 Menschen in 100 Ländern angewachsen. Mitglieder beschreiben die Gruppe als einen Rettungsanker und schätzen die sozialen und das Wohlbefinden fördernden Aktivitäten, darunter ein Long COVID-Chor, Stuhl-Yoga, Atemübungen mit Opernsängern und Zoom-Chats. Als breiter angelegte Organisation arbeitet die Gruppe „Long COVID Support“ mit Politikern, Wissenschaftlern und anderen Institutionen zusammen, um der großen Anzahl an Menschen mit Long COVID zu helfen.

Über zwei Jahre nach ihrer COVID-19-Infektion hat Claire ihr Leben an die neue Normalität angepasst. Nachdem sie über ein Jahr lang nicht in der Lage war zu arbeiten, arbeitet sie nun in Teilzeit von zu Hause aus. Glücklicherweise zeigte ihr Arbeitgeber großes Verständnis für ihre Erkrankung und ermöglichte ihr, ihre Funktion an die Einschränkungen anzupassen, die die Krankheit ihrem Leben aufzwingt.

Eine noch kaum erforschte Erkrankung


Bisher wurden über 200 Symptome mit Long COVID in Verbindung gebracht, was Ärzten eine klare Diagnose und die Behandlung der Erkrankung erschwert. Erschwerend kommt hinzu, dass die Erkrankung oftmals schubförmig auftritt.

Es ist unklar, wie viele Menschen genau von Long COVID betroffen sind. Studien deuten jedoch darauf hin, dass rund 10–20% der mit COVID-19 Infizierten Wochen oder sogar Monate nach ihrer ursprünglichen Infektion noch mit anhaltenden Symptomen zu kämpfen haben. 

Alter und Schwere der ursprünglichen Symptome scheinen im Hinblick auf eine mögliche Entwicklung von Long COVID irrelevant zu sein. Das bedeutet, dass in der Europäischen Region der WHO gegenwärtig Millionen von Menschen mit einer Erkrankung kämpfen, die sich auf ihre Funktionsfähigkeit, ihre Arbeitsfähigkeit und ihre Lebensqualität auswirkt.

Zunehmende Anerkennung und Hilfestellung für Menschen mit Long COVID


Das Ausmaß und die Folgen von Long COVID – einer Langzeiterkrankung, die die Gesundheitssysteme auf der ganzen Welt noch Jahre lang erheblich belasten wird – werden erst jetzt langsam realisiert. 
 
WHO/Europa ist derzeit dabei, eine Partnerschaft mit Long COVID Europe einzugehen, ein Netzwerk aus patientengeführten Verbänden, das seit seiner Gründung im letzten Jahr Informationen zu der Erkrankung sammelt und sie mit interessierten Akteuren und Betroffenen teilt. 

Darüber hinaus arbeitet WHO/Europa mit Patientengruppen zusammen, um vorrangige Bereiche zu ermitteln, in denen Handlungsbedarf besteht. Aktuell fordert WHO/Europa Regierungen und Behörden auf, ihre Aufmerksamkeit auf Long COVID und die von dieser Erkrankung Betroffenen zu richten, und zwar durch bessere: 

  • Anerkennung: sämtliche Dienste müssen angemessen ausgestattet werden und kein Patient sollte alleine gelassen werden oder durch ein System navigieren müssen, das nicht darauf vorbereitet oder nicht in der Lage ist, diese stark beeinträchtigende Erkrankung anzuerkennen; 
  • Forschung und Berichterstattung: es bedarf der Datensammlung und Fallmeldung sowie einer gut koordinierten Erforschung unter vollständiger Einbindung von Patienten, um ein besseres Verständnis der Prävalenz, Ursachen und Kosten von Long COVID zu entwickeln; und 
  • Rehabilitation: diese kostenwirksame Intervention stellt eine Investition in den Wiederaufbau gesunder und produktiver Gesellschaften dar.