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„Es ist nicht nur, dass wir die gleiche Sprache sprechen“

Die einzigartige Rolle von Gesundheitsfachkräften und kulturellen Mediatoren, die selbst Flüchtlinge sind, bei der Erfüllung der gesundheitlichen Bedürfnisse von Flüchtlingen

20 June 2023
Weltweit sind aufgrund von Verfolgung und Konflikten mehr Menschen als je zuvor zur Flucht gezwungen und auf der Suche nach einem Zufluchtsort. Die weltweiten Flüchtlingszahlen liegen mittlerweile bei über 100 Millionen – was der Einwohnerzahl des fünfzehnt größten Landes auf Erden oder zusammengenommen der Größe von Deutschland und den Niederlanden entspricht. 

Auch wenn sich die jeweiligen Umstände und der Umgang der Länder mit Flüchtlingen unterscheiden, ist eines gewiss: Integration ist von zentraler Bedeutung, um zu gewährleisten, dass die Bedürfnisse von Flüchtlingen erfüllt werden, und dass Aufnahmeländer in der Lage sind, die zunehmenden Anforderungen an die Infrastruktur im eigenen Land, insbesondere an die Gesundheitsversorgung, zu bewältigen. Innovative Lösungen, wie die Einbindung qualifizierter Flüchtlinge in das Personalangebot im Gesundheitswesen, können helfen und Vorteile sowohl für Flüchtlinge als auch für die Aufnahmeländer mit sich bringen.

„Die Länder in der Europäischen Region der WHO sehen sich mit Vertreibung und Flucht in einem Ausmaß konfrontiert, wie sie es seit Jahrzehnten nicht erlebt haben“, erläutert Gerald Rockenschaub, Direktor für gesundheitliche Notlagen in der Europäischen Region bei WHO/Europa. „Wir wissen, dass in Zukunft infolge von Krisen wie dem Klimawandel, um hier nur eine zu nennen, immer mehr Menschen gezwungen sein könnten, aus ihrem Zuhause zu fliehen. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Gesundheitssysteme in der Lage sind, sich entsprechend anzupassen und Neuerungen einzuführen, um effektiv auf die Bedürfnisse von Flüchtlingen und Aufnahmeländern gleichermaßen eingehen zu können.“

Im Folgenden hören wir von unterschiedlichen Gesundheitsfachkräften, die auf ihre eigenen Erfahrungen als Flüchtlinge zurückgreifen, um anderen zu helfen. Sie erzählen, auf welche Art und Weise das ihnen geholfen hat, sich in ihrem jeweiligen Aufnahmeland zu integrieren.

Der kulturelle Mediator

Wenn Flüchtlinge in einem neuen Land ankommen, brauchen sie dringend Zugang zu Informationen und Hilfe, um ihre Grundbedürfnisse, wie Unterkunft, Nahrung und Gesundheitsversorgung, zu decken. Kulturelle Mediatoren bieten Hilfe und Rat, um sich in unbekannten Systemen, u. a. dem Gesundheitssystem, in den Aufnahmeländern zurechtzufinden. 

Dian floh im Alter von 15 Jahren nach einem gewaltsamen Militärputsch im Jahr 2008 aus seinem Heimatland Guinea. Ursprünglich wollte er nach Frankreich gelangen, da er dachte, dass die Integration ihm dort leichter fallen würde, da er die Sprache spricht. Doch als er aus der Türkei kommend in Griechenland ankam, beschloss er letztendlich, dort zu bleiben und die Sprache zu lernen, und machte dort seinen Sekundarschulabschluss.

Heute ist Dian als kultureller Mediator und Dolmetscher tätig und fährt jeden Morgen mit seinem Motorrad in das Flüchtlingslager Schisto. „Ich arbeite in einem Flüchtlingslager mit vielen schutzbedürftigen Menschen, Menschen im Rollstuhl, Blinden, Menschen mit chronischen Erkrankungen, Kindern, Schwangeren und anderen. Meine Kollegen bieten personalisierte medizinische Leistungen sowie psychosoziale Unterstützung und Angebote der psychischen Gesundheitsversorgung“, erläutert er.

„Ich habe das Gefühl, dass meine Arbeit großen Einfluss auf das Leben der in Griechenland ankommenden Flüchtlinge hat. Sie wissen um meine Erfahrungen, daher fühlen sie sich bei mir sicher. Sie wissen, dass ich Anteil an ihren Erfahrungen nehme und in ihrem Leben etwas bewirken möchte.“

Dian unterstreicht, wie wichtig gegenseitiges Vertrauen ist: „Die Menschen vertrauen mir, sie wissen, dass wir Ähnliches erlebt haben. Ich verstehe, wie sie sich fühlen, was sie brauchen, und das spüren sie. Zudem hilft es, dass ich ein schwarzer Afrikaner bin; die Leistungsempfänger, mit denen ich arbeite, fühlen sich sicher, wenn sie mit mir sprechen, und ich kann ihre Bedürfnisse genau nachvollziehen, da ich ihre Kultur kenne. Kulturelle Mediatoren spielen eine entscheidende Rolle beim Aufbau von Vertrauen in die von ihnen angebotenen Leistungen. Ich genieße das Vertrauen sowohl der Leistungsempfänger als auch des Gesundheitspersonals.“

Dian weiß zudem, dass seine Situation andere Menschen inspiriert: „Meine Erfahrungen haben mich stärker und unabhängiger gemacht und mich in die Lage versetzt, mich besser an unterschiedliche Herausforderungen anzupassen. Nun mache ich anderen Menschen Mut. Ich habe die Sprache gelernt, ich habe mich integriert und ich habe heute einen angesehenen Job, der mir einen gewissen Lebensstandard ermöglicht. An mir können sie sehen, wie weit man es in diesem Land bringen kann. Ich denke, dass meine Situation den Menschen Hoffnung gibt, insbesondere jungen Menschen und Kindern.“

Die Psychologin

Maryna Riabenko war gezwungen, aus ihrem Zuhause in Charkiw in der Ukraine zu fliehen, als es im Frühling 2022 von einer Rakete getroffen wurde. Nach ihrer Ankunft in Tschechien fand sie rasch eine Wohnung und begann, mithilfe einer lokalen Familie die tschechische Sprache zu lernen, wodurch sie in der Lage war, sich nach Arbeit umzuschauen. Nachdem ihre akademischen Qualifikationen im Bereich Kinderpsychologie anerkannt worden waren, begann Maryna, in einem Support-Zentrum für Flüchtlinge aus der Ukraine zu arbeiten. 

„Als erstes habe ich vorgeschlagen, neben den Einzelgesprächen auch Kunsttherapie und Entspannungsübungen einzuführen. Einige der Kinder waren bereits in der Ukraine in psychiatrischer Versorgung oder psychologischer Beratung gewesen, sodass die Belastung durch den Krieg und ihre Flucht dazu führte, dass sich ihre psychische Verfassung rapide verschlechterte. Diese Kinder brauchten Medikamente und psychologische Unterstützung“, erklärt Maryna.

„Es gibt andere Kinder, die infolge der traumatischen Erlebnisse, die sie durchgemacht haben, Verhaltensprobleme aufweisen – in einigen Fällen wurden sie von ihren Eltern getrennt, oder ihr Zuhause wurde zerstört. Wir arbeiten eng mit den Schulen zusammen, um diesen Kindern zu helfen, entwickeln Strategien, um dabei zu helfen, die Bedingungen für sie zu verbessern, damit die Kinder sich besser anpassen können.“ 
 
Maryna betont ihre Affinität für die jungen Menschen, mit denen sie arbeitet: „Ich habe sofort realisiert, dass ich in der Lage sein würde, auf einer tieferen Ebene eine Verbindung zu den ukrainischen Kindern aufzubauen. Es ist nicht nur, dass wir die gleiche Sprache sprechen – sondern ich selbst bin ebenfalls zu einem Flüchtling geworden, sodass ich verstehe, wie sie sich fühlen, und nachvollziehen kann, was sie durchmachen. Ich weiß bereits, welche Form von Unterstützung sie brauchen, denn ich war selbst in ihrer Position.“

Die Ärztin

Svitlana Borysenko kam im März 2022 mit ihrer Tochter und ihrem Enkel in Polen an. Das Haus der Familie in Kramatorsk, einer Stadt im Donbas in der Ukraine, lag in der Nähe der Kämpfe, und ihr Mann wie auch ihr Schwiegersohn, die beide Sanitäter sind, blieben dort, um die Verwundeten an der Front zu behandeln.

„Ursprünglich dachte ich, dass wir für einen Monat oder zwei in Polen bleiben würden, nicht länger. Als wir realisierten, dass wir nicht so schnell nach Hause zurückkehren würden, wussten meine Tochter und ich, dass wir irgendwie Arbeit finden und irgendwie leben mussten. Wir mussten überleben“, erzählt sie.

„Wir sind beide Ärztinnen, also füllten wir Anträge aus, um unseren Beruf in Polen ausüben zu können, was kein leichtes Unterfangen war. Es war ein sehr umfassendes Verfahren – nachdem meine Dokumente vom Gesundheitsministerium anerkannt worden waren, musste ich eine Prüfung ablegen und ein Interview durchlaufen, und anschließend unter Aufsicht arbeiten. Da es ein anderes Land ist, sind auch das System und die Bräuche ein wenig anders. Doch die Krankheiten und gesundheitlichen Probleme der Patienten sind die Gleichen, egal welchen Hintergrund oder welche Nationalität sie haben.“ 

In der Ukraine hatte Svitlana vier Fachgebiete: Physiotherapie, Rehabilitation, Nephrologie und Familienmedizin. In Polen arbeitet sie nun in der Abteilung für Lungenerkrankungen der internistischen Station im Krankenhaus in Lubartów sowie in einer Klinik. Im Krankenhaus behandelt sie in erster Linie polnische Patienten, doch in der Klinik sind ihre Patienten vor allem Ukrainer. 

„Wenn die ukrainischen Patienten mich das erste Mal treffen und realisieren, dass ihre Ärztin ebenfalls ein Flüchtling ist, sind sie sehr froh – es ist einfach leichter für sie, ihre Probleme zu erklären, sowohl in unserer gemeinsamen Sprache als auch vor dem Hintergrund unserer gemeinsamen Erfahrungen. Ich habe viele ukrainische Patienten mit psychischen Störungen, Depressionen, Angstzuständen. Jeder zweite oder dritte Patient hat während des Krieges schwierige Zeiten durchlebt.“ 

Svitlana erläutert: „Ich stamme aus dem Osten der Ukraine, und ich weiß nicht, was ich vorfinden werde, wenn ich dorthin zurückkehre. Es ist wirklich sehr schwer für mich, nicht zu wissen, wie lange dieser Krieg andauern wird. Aber ich bin stolz auf das, was ich erreicht habe, seit ich hier angekommen bin. Ich bin keine junge Frau mehr, und das Recht zu erhalten, meinen Beruf in einem anderen Land auszuüben, ist ein riesiger Erfolg für mich.“ 

Wenn man sie fragt, welche praktischen Ratschläge sie anderen Flüchtlingen geben würde, die Ärzte sind, sagt sie, dass es am Anfang am wichtigsten sei, die Sprache zu lernen. Sie sprach kein Polnisch als sie in Polen ankam, doch durch kontinuierliches Lernen erlangte sie Sprachkenntnisse vom Niveau A1, und arbeitet nun darauf hin, das Niveau B1 abzuschließen. 

Sie fügt hinzu: „Auf persönlicher Ebene wäre mein Rat an andere in medizinischen Berufen tätige Flüchtlinge, dass, wenn man etwas wirklich will, man es früher oder später auch erreichen wird. Alles ist möglich, man muss es nur genug wollen. Man kann nicht seine Hände in den Schoß legen und aufgeben; man darf nicht aufhören, an sich selbst zu glauben.“

Die eindeutigen Vorteile der Integration

Gundo Weiler, Direktor der Abteilung Länderunterstützung bei WHO/Europa, betont: „Wie diese Geschichten zeigen, bringt eine gute Integration Vorteile sowohl für Flüchtlinge als auch für die Aufnahmeländer, und zwar an mehreren Fronten. WHO/Europa und die ganze Familie der Vereinten Nationen dankt den Mitgliedstaaten, die keine Mühen gescheut haben, um Flüchtlinge aufzunehmen und deren Integration in die größere Gemeinschaft zu erleichtern, sowohl in beruflicher wie auch persönlicher Hinsicht. Die positiven Auswirkungen dieser Bemühungen – insbesondere im Hinblick auf Gesundheit und Wohlbefinden – liegen klar auf der Hand.“