Mit seinen 12 Jahren sollte Jay eigentlich draußen spielen und Sport treiben und die Zeit in der Schule und mit Freunden genießen. Stattdessen sitzt er 18 Monate nach einer Infektion mit COVID-19 und 6 Monate nach einer weiteren unbestätigten Virusinfektion zu Hause fest, unfähig zu gehen und erschöpft, und fragt sich, wann es ihm endlich besser gehen wird.
Bislang gibt es keine klaren Antworten. „Die Ärzte haben mir nicht viel helfen können, weil sie sich meine Erkrankung einfach nicht erklären können,“ erklärt Jay.
Während wir die Akutphase der COVID-19-Pandemie hinter uns lassen, hält die bestürzende Schattenpandemie der Long COVID-Erkrankungen nach wie vor an. Eine Long COVID-Diagnose bei Kindern kann besonders schwierig sein, da andere Kinderkrankheiten und Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen ausgeschlossen werden müssen. Es ist noch ein langer Weg zurückzulegen, bevor die Mechanismen des Virus vollständig verstanden werden und weitreichende Behandlungen angewandt werden können.
Im Laufe der COVID-19-Notlage teilte WHO/Europa die Erfahrungen einer Vielzahl von Menschen, darunter auch Kinder wie Jay, deren Leben sich seit ihrer Infektion mit dem Virus drastisch verändert hat. In diesem Artikel wiederholen wir, was wir über Long COVID bei Kindern und Jugendlichen wissen, und erläutern, warum Wissenschaftler nach wie vor darum ringen, die eklatanten Lücken in unserem Verständnis der Erkrankung zu füllen.
Die Symptome von Long COVID bei Kindern
Prof. Selina Kikkenborg Berg ist ausgebildete Pflegekraft und Herzspezialistin, die die Symptome von Long COVID in einer großen Kohorte junger Menschen in Dänemark erforscht hat. Ihre Studien erfassen die häufigsten Symptome von Long COVID bei Kindern und Jugendlichen als Kopfschmerzen, Müdigkeit, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten und Unterleibsschmerzen.
Erfreulicherweise stellt Prof. Berg fest, dass Long COVID deutlich seltener bei Kindern auftritt als bei Erwachsenen und dass die Wirkungen in den meisten Fällen eher schwach ausgeprägt sind und nur vorübergehend auftreten. „Kinder fragen ihre Eltern: ,Wann bin ich wieder gesund? Wann geht es mir besser?‘ Wenn man mich fragt, sage ich immer, dass die meisten Symptome nach sechs Monaten verschwinden, denn das tun sie in den meisten Fällen.“
Bei ihrer Forschungsarbeit stellte sie jedoch fest, dass rund 15 % derjenigen, die drei Monate nach ihrer Infektion Symptome entwickelten, auch noch 12 Monate nach ihrer Infektion Symptome aufwiesen. Obwohl nur wenige ins Krankenhaus müssen, kann eine Erkrankung für diese kleine Minderheit bedeuten, dass sie Unterricht, Sportkurse und Zeit mit ihren Freunden verpassen.
„Das wirft sie in ihrer Entwicklung zurück. Es ist eine Phase ihres Lebens, in der so viel passiert und in der sie so viel lernen und sie sich zusammen mit Gleichaltrigen entwickeln müssen. Daher kann sich für sie ein Monat wie ein Jahr anfühlen“, erklärt sie.
Ist es definitiv Long COVID?
Eine der Herausforderungen von Long COVID ist das derzeitige Fehlen eines definitiven Tests, der bei der Diagnose der Erkrankung behilflich sein kann. „Wir wissen, dass Long COVID real ist, und dass die Erkrankung auch bei Kindern auftritt. Doch sie ist sehr schwer zu diagnostizieren, da es so viele Symptome gibt und sie sich ganz unterschiedlich anhäufen können“, erklärt Prof. Berg.
Hinzu kommt, dass Eltern zwar vielleicht Veränderungen beim Appetit, bei der Konzentration und bei der Stimmung ihres Kindes feststellen, Kleinkinder hingegen nicht immer ausdrücken können, wie es ihnen geht. Eine getrübte Stimmung und Angstzustände können ein Symptom von Long COVID sein, doch bei ihrer Forschungsarbeit fand Prof. Berg heraus, dass die Pandemie sich auch auf die psychische Gesundheit von Kindern auswirkte, die sich nicht mit COVID-19 angesteckt hatten.
Für Ärzte und Wissenschaftler besteht eine weitere Frustration im derzeitigen Mangel an routinemäßigen Tests. Zudem sind Kinder oft asymptomatisch oder weisen nur leichte Symptome auf, wenn sie sich mit COVID-19 infizieren, sodass Eltern möglicherweise nicht einmal realisieren, dass sich ihr Kind mit dem Virus angesteckt hat.
„Wir stellen fest, dass Kinder von einem Facharzt zum nächsten geschickt werden, da die Symptome separat betrachtet werden. Denn es ist enorm schwierig zu erkennen, dass es vor dem ersten Auftreten der Symptome überhaupt eine Virusinfektion oder eine Infektion mit COVID-19 gab“, erläutert Prof. Berg.
„Das Schwierigste für Eltern ist, nicht in der Lage zu sein, diese eine Frage zu beantworten, die ihr Kind ihnen stellt: ,Was fehlt mir?‘ Und leider macht die Tatsache, dass sie keine Antwort darauf wissen, Eltern oft verzweifelt. ,Ist es etwas Psychologisches? Werden sie gemobbt? Übersehe ich etwas in ihrem Sozialleben? Ist es etwas Körperliches? Könnte es etwas Schwerwiegendes sein? Könnte ich mein Kind verlieren?‘“
Sie fügt hinzu: „Für Eltern kann dies enorme Auswirkungen auf ihre eigene Lebensqualität haben, nicht zu wissen, was mit ihrem Kind los ist. Einige Eltern müssen für einige Zeit ihren Job aufgeben oder von zu Hause aus arbeiten, um sich um ihre Kinder kümmern zu können – es hat also enorme Auswirkungen auf die ganze Familie.“
Eine einzigartige Chance, das Wissen zu erweitern
Prof. Berg fordert Gesundheitssysteme, Politiker und Politikverantwortliche dazu auf, die Auswirkungen von Long COVID anzuerkennen, den Zugang zur Gesundheitsversorgung für diejenigen mit einem entsprechenden Bedarf zu verbessern und multidisziplinäre Gesundheitsteams einzurichten, die auch Patientenvertreter in die Erstellung von Behandlungsstrategien mit einbeziehen.
Darüber hinaus ist sie der Ansicht, dass COVID-19 eine einzigartige Chance für das Gesundheitswesen bietet, um den bislang zu wenig beachteten Bereich der postviralen Erkrankungen zu erforschen. „Dies ist nichts Neues. Was daran neu ist, ist die Menge an Leuten, die unter langfristigen Symptomen leiden.“
Wir alle haben COVID-19 satt, doch niemand mehr als die Erwachsenen und Kinder, die nach wie vor mit Long COVID leben müssen. Während wir die COVID-19-Notlage überwinden, darf die Schattenpandemie der Long COVID-Erkrankungen nicht ignoriert werden. Die Anzahl der betroffenen Menschen steigt nach wie vor, und trotzdem haben wir bislang so wenige Antworten auf die Frage gefunden, warum die Erkrankung auftritt oder wie sie sich am besten behandeln lässt.
Es bedarf dringend verstärkten Investitionen in die Forschung und die Entwicklung wirksamer und allgemein verfügbarer Rehabilitationsprogramme, um diese oft stark beeinträchtigende Erkrankung zu bekämpfen. WHO/Europa fordert mit erneutem Nachdruck mehr Forschung, Anerkennung und Rehabilitation für Erwachsene und Kinder, die im Schatten von COVID-19 leben.