Rund 2,5 Mio. Haushalte in der Ukraine hatten im Jahr 2021 mit ruinösen Gesundheitsausgaben zu kämpfen. Das ist fast jeder fünfte Haushalt – ein Anteil, der einem neuen heute beim WHO-Forum in Barcelona zum Thema finanzielle Absicherung in Europa veröffentlichten Bericht zufolge höher ist als in vielen anderen Ländern in der Europäischen Region der WHO.
Mit ruinösen Gesundheitsausgaben zu kämpfen bedeutet, dass ein Haushalt sich aufgrund von Zahlungen aus eigener Tasche für die Gesundheitsversorgung Grundbedürfnisse – wie Nahrungsmittel, Wohnung und Strom – nicht länger leisten kann. In der Ukraine haben in erste Linie Haushalte mit niedrigem Einkommen sowie Rentner oder Menschen in ländlichen Gebieten mit ruinösen Gesundheitsausgaben zu kämpfen.
Der neue Bericht von WHO/Europa mit dem Titel „Können sich die Menschen ihre Gesundheitsversorgung leisten? Neue Erkenntnisse über finanzielle Absicherung in der Ukraine“ zeigt, dass finanzielle Härten infolge von Zahlungen aus eigener Tasche fast ausschließlich auf Ausgaben für Arzneimittel und stationäre Versorgung zurückzuführen sind. Arzneimittel sind hierbei der maßgebliche Faktor in einkommensschwächeren Haushalten, stationäre Versorgung wiederum in wohlhabenderen Haushalten. Die stationäre Versorgung spielt in der Ukraine eine deutlich größere Rolle bei der Verursachung ruinöser Gesundheitsausgaben als in den meisten anderen Ländern in der Europäischen Region.
Diese neue Analyse verdeutlicht den Status der finanziellen Absicherung (ein bezahlbarer Zugang zur Gesundheitsversorgung) in der Ukraine schon vor Beginn der Invasion durch die Russische Föderation im Jahr 2022. Ausgehend von Umfragedaten aus den Jahren 2009 bis 2021 untersucht sie die Auswirkungen der Reformen im Bereich der Gesundheitsfinanzierung, die im Jahr 2017 eingeführt wurden, und stellt fest, dass die ruinösen Gesundheitsausgaben zwischen 2018 und 2021 geringfügig aber kontinuierlich zurückgegangen waren. Dieser positive Trend wird sich infolge der verheerenden Folgen der Invasion für die Wirtschaft, das Gesundheitssystem, die Armut von Haushalten und die Gesundheit der Menschen vermutlich wieder umkehren.
„Seit 2017 hat die Regierung der Ukraine Maßnahmen ergriffen, um Zahlungen aus eigener Tasche zu verringern, und zwar durch die Erhöhung der öffentlichen Ausgaben für die Gesundheit sowie durch Reformen im Bereich der Gesundheitsfinanzierung, die darauf abzielen, die Chancengleichheit und Effizienz im Gesundheitssystem zu verbessern. Es ist gut, eine positive Wirkung infolge dieser Veränderungen zu sehen, auch wenn weiterhin viel zu tun bleibt, um die Herausforderung von Zahlungen aus eigener Tasche anzugehen, insbesondere für Menschen mit niedrigem Einkommen und andere, die besonders stark durch ruinöse Gesundheitsausgaben gefährdet sind“, erklärte Dr. Jarno Habicht, Repräsentant der WHO in der Ukraine.
„Die Stärken der Kostenerstattungspraxis im aktuellen System – eine nahezu vollständige Abdeckung der gesamten Bevölkerung und nur geringfügige Nutzung von Zuzahlungen – gewinnen vor dem Hintergrund des Krieges zunehmend an Bedeutung“, erklärte Alona Goroshko, Hauptautorin des WHO-Berichts. „Den Empfehlungen des Berichts zufolge sollte die Regierung die Unterstützung des Nationalen Gesundheitsdienstes der Ukraine (NHSU) fortsetzen, damit dieser besser in der Lage ist, Zahlungen aus eigener Tasche für Arzneimittel und eine stationäre Versorgung auf eine Weise zu verringern, die auch die finanzielle Absicherung verbessert. Dadurch wird sich vermutlich auch das Vertrauen in das Gesundheitssystem und in die Fähigkeit der Regierung erhöhen, das Leben der Menschen inmitten der Herausforderungen des Krieges zu verbessern.“
Reformen sollen Ukraine einer allgemeinen Gesundheitsversorgung näherbringen
Der neue Bericht der WHO stellt fest, dass die Kostenerstattungspraxis in der Ukraine über drei Merkmale verfügt, die mit einer besseren finanziellen Absicherung in Zusammenhang stehen.
Erstens basiert der Anspruch auf staatlich finanzierte Gesundheitsangebote auf dem Wohnort, wodurch gewährleistet wird, dass der Großteil der Bevölkerung abgedeckt ist, anders als in Gesundheitssystemen, in denen der Anspruch an Beitragszahlungen gekoppelt ist, was dazu führt, dass viele Menschen möglicherweise nicht abgedeckt sind.
Zweitens war die Einführung des Programms für bezahlbare Arzneimittel (AMP) im Jahr 2017 und des Programms für medizinische Garantien (PMG) im Jahr 2018 (und die weitere Ausweitung im Jahr 2020) ein wichtiger Versuch, die staatlich finanzierten Gesundheitsleistungen explizit an gesundheitliche Bedürfnisse und verfügbare Mittel zu koppeln.
Drittens werden Nutzergebühren (Zuzahlungen) auf ein Minimum begrenzt, insbesondere in der primären Gesundheitsversorgung.
Lücken bei der Gesundheitsversorgung untergraben die finanzielle Absicherung
Trotz dieser wichtigen positiven Merkmale sind informelle Zahlungen und andere Zahlungen aus eigener Tasche im Gesundheitssystem weit verbreitet. Dies ist bedingt durch niedrige öffentliche Ausgaben für Gesundheit und andere Ineffizienzen, darunter folgende Faktoren:
- Die Menschen zahlen häufig für ambulant verschriebene Arzneimittel aus eigener Tasche, da das im Jahr 2017 eingeführte AMP nach wie vor nur eine relativ geringe Zahl von Krankheiten abdeckt und nur von einem kleinen Anteil der Bevölkerung in Anspruch genommen wird. Darüber hinaus bestehen geografische Ungleichgewichte beim Zugang zu den Leistungen des AMP.
- Obwohl es gesetzlich vorgeschrieben ist, ambulant verschriebene Arzneimittel nach Wirkstoffen (dem internationalen Freinamen) zu verschreiben, ist dies in der Praxis nicht die Regel; Ärzte verschreiben oft Marken-Arzneimittel zu höheren relativen Kosten. Darüber hinaus ist die Wirksamkeit eines erheblichen Anteils der verschriebenen und aus eigener Tasche bezahlten Arzneimittel nicht erwiesen.
- Von den Menschen wird aufgrund einer chronischen Unterfinanzierung des PMG im Verhältnis zum abgedeckten Leistungsangebot, des begrenzten Umfangs der ukrainischen Liste unentbehrlicher Arzneimittel (auf deren Grundlage die abgedeckten stationär verschriebenen Arzneimittel festgelegt werden), von Versäumnissen bei der Beschaffung oder Verteilung zentral beschaffter Arzneimittel und medizinischer Produkte sowie einer geringen Rechenschaftslegung der Anbieter im Allgemeinen erwartet, dass sie im Krankenhaus ihre eigenen Arzneimittel und sonstigen Versorgungsgüter bereitstellen.
Den Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle Menschen erschwinglich machen
Der Bericht hebt fünf Wege hervor, wie die Regierung der Ukraine die finanzielle Absicherung stärken kann:
- Priorisierung der öffentlichen Ausgaben für eine umfassende primäre Gesundheitsversorgung, einschließlich Finanzmitteln für einen besseren Zugang zu Arzneimitteln und diagnostischen Tests, und Stärkung der Verschreibung, Ausgabe, Preisregulierung und Verfügbarkeit von Arzneimitteln.
- Reduzierung informeller Zahlungen für die stationäre Versorgung.
- Verbesserung der Politiksteuerung im Hinblick auf das PMG, indem man das Verfahren für dessen Gestaltung und Ausweitung deutlicher herausstellt und transparenter macht und dabei eine Vielzahl von Perspektiven einbezogen wird.
- Ausbau der Kapazitäten des NHSU, um ihn zu einem aktiven Käufer von Leistungen zu machen und ihn so in die Lage zu versetzen, staatliche Ressourcen besser zu nutzen.
- Umsetzung von Konzepten zur Verbesserung des Schutzes von Haushalten mit niedrigem Einkommen und anderen durch ruinöse Gesundheitsausgaben besonders stark gefährdeten Menschen.
Über den Bericht
Der Bericht stützt sich auf Daten aus Erhebungen über die Wirtschaftsrechnungen privater Haushalte, die im Zeitraum zwischen 2009 und 2021 durchgeführt wurden, sowie auf Informationen zur Kostenerstattungspraxis (Abdeckung der Bevölkerung, Versorgungsgrad und Nutzergebühren) bis Ende des Jahres 2022. Er beurteilt den Status der finanziellen Absicherung in der Ukraine vor Beginn der groß angelegten Invasion durch die Russische Föderation im Februar 2022. Die Ukraine ist eines der wenigen Länder in der Europäischen Region, die bis zum Jahr 2021 Evidenz zur finanziellen Absicherung vorgelegt haben.
Über die Arbeit von WHO/Europa zur finanziellen Absicherung
Finanzielle Absicherung ist für eine allgemeine Gesundheitsversorgung von zentraler Bedeutung. Sie ist ein Indikator der Ziele für nachhaltige Entwicklung, Teil der Europäischen Säule sozialer Rechte und steht im Zentrum des Europäischen Arbeitsprogramms, des strategischen Handlungsrahmens von WHO/Europa.
WHO/Europa überwacht die finanzielle Absicherung über das WHO-Büro Barcelona zur Finanzierung der Gesundheitssysteme und nutzt dafür regionale Indikatoren zur Erfassung von Chancengleichheit. Darüber hinaus leistet das Büro in Barcelona maßgeschneiderte fachliche Hilfe für die Länder, um durch Identifizierung und Beseitigung von Versorgungsdefiziten unerfüllte Bedürfnisse und finanzielle Härten zu verringern