Die Allgemeinärztin Dr. Sara Biere-Rafi ist eine von 140 medizinischen Fachkräften, die für C-Support arbeiten, eine staatlich finanzierte Organisation in den Niederlanden, die Patienten mit dem Post-COVID-19-Syndrom, auch „Long COVID“ genannt, kostenlos Informationen, Empfehlungen und Beratung anbietet.
Zusammen mit ihren Kollegen in der Organisation hat sie seit Beginn der Pandemie mehr als 23 000 Patienten geholfen, und obwohl die Zahl der COVID-19-Fälle nicht mehr so hoch ist wie zuvor, gibt es ihrer Meinung nach keine Anzeichen für einen Rückgang der Nachfrage nach Hilfe, denn im Durchschnitt suchen pro Monat 800 bis 1000 Patienten mit Long COVID Hilfe.
Die Ergebnisse einer im August 2022 von der Universität Groningen (Niederlande) veröffentlichten Studie deuten darauf hin, dass 12,7 % der COVID-19-Patienten – also jeder Achte – drei bis fünf Monate nach ihrer ursprünglichen Infektion neue oder stark erhöhte Symptome aufweisen, was den dringenden Bedarf an Unterstützung für die Tausenden von Menschen verdeutlicht, die mit einer Vielzahl von zu Invalidität führenden Langzeitsymptomen zu kämpfen haben.
Der Brückenschlag
„Die Menschen wenden sich an uns, weil die vorhandene Versorgung nicht ausreicht“, sagt Dr. Biere-Rafi. „In den Gesundheitsberufen ist das Wissen über Long COVID noch immer begrenzt. Außerdem ist die Versorgung stark fragmentiert und entspricht nicht den Bedürfnissen der Patienten, insbesondere derjenigen mit schweren Symptomen. Ich mache mir große Sorgen mit Blick auf die Auswirkungen, die das Post-COVID-19-Syndrom nicht nur auf diese Menschen und ihre Familien, sondern auch auf die Gesellschaft insgesamt hat und in Zukunft haben wird.“
Wer drei Monate nach der ersten COVID-19-Diagnose noch Symptome hat, kann sich online bei C-Support anmelden. Diese Patienten erhalten dann regelmäßige Anrufe von dem Team, das sich hauptsächlich aus Sozialarbeitern und Arbeitsexperten sowie einem medizinischen Team aus Allgemeinmedizinern, Lungenärzten und einem Arbeitsmediziner zusammensetzt.
„Wir sprechen mit Patienten, die aufgrund ihrer Symptome manchmal an die Wohnung oder ans Bett gefesselt sind und ein sehr isoliertes Leben führen“, erklärt sie. „Sie sind zu krank, um an Rehabilitationsprogrammen teilzunehmen, und können sich an niemanden wenden, der ihnen helfen kann.“
„Wir haben eine Untersuchung mit 8000 unserer Patienten durchgeführt und festgestellt, dass 30 % aufgrund ihrer Symptome arbeitsunfähig waren und 45 % ihre normale Arbeitszeit um die Hälfte reduziert hatten. Unsere Daten werden durch die Zahl der Patienten mit Long COVID untermauert, die sich wegen Krankengeld an die Arbeitnehmersicherung wenden. Wenn diese Zahl weiter ansteigt, bekommen wir erhebliche Probleme. Wir müssen in eine bessere Versorgung investieren.“
Viele von denen, die sich jetzt an C-Support wenden, tun dies, weil ihr gesetzlicher Anspruch auf Krankengeld nach zwei Jahren ausläuft und sie jetzt ihren Arbeitsplatz verlieren könnten, erklärt Dr. Biere-Rafi.
„Zu Beginn der Pandemie ging es bei den Fragen eher darum, eine Form der Anerkennung und Informationen über die Symptome zu finden. Jetzt suchen die Menschen eine rechtliche und finanzielle Beratung und fragen, ob es irgendwelche Behandlungen gibt, die sie noch nicht ausprobiert haben und die ihnen helfen könnten.“
Spezialisierte Kliniken erforderlich
Neben der Aufklärung und Beratung von Patienten bietet das Team auch Schulungen für Angehörige der Gesundheitsberufe an und beteiligt sich an Programmen zur Erforschung der Krankheit.
Die Organisation fordert die Einrichtung von Spezialkliniken für das Post-COVID-19-Syndrom, die eine zentralisierte und integrierte Versorgung der Patienten anbieten, das medizinische Personal schulen und groß angelegte Forschungsarbeiten ermöglichen würden.
„Über diese Krankheit müssen wir noch sehr viel lernen, und einige der Antworten können in früheren Erfahrungen mit postinfektiösen Erkrankungen liegen“, sagt Dr. Biere-Rafi. „Wir haben mit der Regierung über den Bedarf an spezialisierten Kliniken und über mehr Mittel für die Forschung und für eine Ausweitung der nationalen und internationalen Zusammenarbeit gesprochen. Da die Patienten in ihrer Verzweiflung oft zu unbewährten und manchmal gefährlichen Behandlungen greifen, haben wir einen dringenden Handlungsbedarf.“
In der gesamten Europäischen Region der WHO waren Schätzungen zufolge allein in den ersten zwei Jahren der Pandemie mindestens 17 Mio. Menschen vom Post-COVID-Syndrom betroffen. WHO/Europa bemüht sich gemeinsam mit Long COVID Europe – einem Netzwerk für Long COVID-Patientenverbände, das von gegenwärtigen und ehemaligen Long COVID-Patienten betrieben wird – darum, sicherzustellen, dass die Erkrankung von Regierungen und Gesundheitsbehörden ernst genommen wird, und zwar durch:
- mehr Anerkennung und einen besseren Wissensaustausch;
- mehr Forschung und eine bessere Berichterstattung;
- eine bessere Rehabilitation.