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Diego, ein Künstler und Leistungsempfänger in Triest, zeigt Delegierten aus Turkmenistan und Usbekistan seine Arbeiten.
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Elena feels that Trieste’s mental health support staff are like her family.
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“Freedom is therapeutic” written on the side of the building of a community mental health centre in Trieste
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Länder Zentralasiens suchen in Triest nach Erfolgsgeheimnissen für eine gemeindenahe Reformierung der psychischen Gesundheitsversorgung

19 December 2023
Pressemitteilung
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In den 1970er Jahren veränderte Triest die psychiatrische Versorgung in Italien für immer, indem es seine psychiatrische Klinik schloss und zu einem gemeindenahen Versorgungsmodell überging, das ganz auf die Nutzer ausgerichtet war. Innerhalb von wenigen Jahren folgte der Rest des Landes. 

Die Stadt setzte diese Geschichte der Innovation fort, indem sie vom 17. bis 19. Oktober erstmals einen Studienbesuch von Vertretern aus vier zentralasiatischen Ländern empfing, die nach den Geheimnissen dieser erfolgreichen Reformierung der psychischen Gesundheitsversorgung und nach den Voraussetzungen für deren Umsetzung in ihren jeweiligen Umfeldern suchten.

Auf Einladung des WHO-Kooperationszentrums für Forschung und Schulung im Bereich der psychischen Gesundheit, das in der Abteilung Psychische Gesundheit an der Azienda Sanitaria Universitaria Giuliano Isontina (ASUGI) angesiedelt ist, haben Vertreter der Gesundheitsministerien Kasachstans, Kirgisistans, Turkmenistans und Usbekistans sowie Fachkräfte aus dem Psychiatriewesen dieser Länder drei Tage in der Kleinstadt im Nordosten Italiens verbracht.

Durch Werbung für das sog. Triester Modell – bei dem die Nutzer als Teil ihrer Gemeinschaft leben können, anstatt nur in der Patientenrolle zu sein – hat die ASUGI die gemeindenahen psychiatrischen Dienste weltweit geprägt. 

„Die Rehabilitation ist das Hauptprojekt für die Nutzer. Wir müssen alles tun, um sie zu unterstützen“, sagt Dr. Pierfranco Trincas, Leiter der Abteilung Psychische Gesundheit bei der ASUGI.

Der Studienbesuch schließt sich an einen Grundsatzdialog an, der am 24. und 25. April 2023 in Taschkent stattfand und bei dem der Übergang zu einer gemeindenahen Versorgung ganz oben auf der Tagesordnung stand.

„Sie behandeln mich wie einen von ihnen“

„Unsere Aufgabe in der psychischen Gesundheitsversorgung ist es, sowohl den Versorgungsbedarf der Menschen zu decken als auch ihre Rechte und Pflichten als Bürger zu wahren“, sagt Dr. Tommaso Bonavigo, der als Psychiater an einem der vier kommunalen Zentren für psychische Gesundheit in Triest arbeitet.

Diese Zentren leisten weit mehr als psychiatrische Krisenbetreuung: sie bieten auch ein breites Spektrum von Leistungen an, die die Genesung und die Widerstandsfähigkeit der Nutzer fördern sollen. 

„Eine psychische Krise tritt nicht nur ein, weil die Person ein psychisches Problem hat. Die Ursachen liegen bei den Betroffenen selbst, in ihrer Familie, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft und anderswo“, sagt Dr. Bonavigo.

Aus diesem Grund konzentrieren sich die gemeindenahen Psychiatriezentren darauf, die Einflussfaktoren im Umfeld der Betroffenen zu ermitteln, die zu ihren Krisen beigetragen haben, und dann geeignete Lösungen für sie zu finden. Dies kann eine Zusammenarbeit mit Familienmitgliedern, Unterstützung bei der Wohnungssuche, Ausbildung oder Weiterbildung oder die Vermittlung eines Arbeitsplatzes erforderlich machen. All dies geschieht in Zusammenarbeit mit den Nutzern selbst.

„Die Fachkräfte in der Psychiatrie in Triest sind ein Teil meiner Familie. Sie kümmern sich um mich als Person und geben mir ein Gefühl der Wertschätzung“, sagt Elena Cerkvenič, eine Nutzerin. „Sie behandeln mich wie einen von ihnen – es gibt keine weißen Kittel, keine Hierarchie.“

„Die Förderung der psychischen Gesundheit ist nicht die Aufgabe von Psychiatern, Pflegekräften und Erziehern“, sagt Morena Furlan, eine Technikerin im Bereich der psychiatrischen Rehabilitation. „Sie müssen einen mehrstufigen Ansatz verfolgen, der die Nutzer und alle öffentlichen und privaten Stellen im Netz der Gesellschaft einbezieht. Der beste Rahmen für die Förderung der psychischen Gesundheit ist die Gemeinschaft, nicht ein einzelner Ort oder ein bestimmtes Angebot.“

Das personalisierte Projekt

„Wie wird das alles finanziert“, fragte ein Delegierter aus Usbekistan – eine Frage, die während des gesamten Studienbesuchs immer wieder auftauchte.

Die Frage, wie gemeindenahe Reformen im Bereich der psychischen Gesundheit finanziert werden sollen, stellt sich immer wieder. Während frühe Befürworter betonten, dass die gemeindenahe Versorgung billiger sei als die Versorgung in Einrichtungen, ergab eine Expertenbefragung der WHO im Jahr 2014, dass die Kosten in etwa gleich hoch sind. Tatsächlich sind der allmähliche Abbau der stationären Versorgung und die Umverteilung von Ressourcen auf die gemeindenahe Versorgung – ein Prozess, der als „Deinstitutionalisierung“ bezeichnet wird – kurzfristig kostspieliger, da sowohl alte als auch neue Modelle parallel finanziert werden müssen.

Neuere Erkenntnisse zeigen, dass gemeindenahe Angebote die Genesung effektiver fördern. Sie gelten als kosteneffektiver, weil sie letztendlich eine Investitionsrendite einbringen.

Italien investiert mit 3,5 % seines gesamten Gesundheitsetats etwa so viel in die psychische Gesundheitsversorgung wie die übrigen Länder der Europäischen Region der WHO. Doch das italienische Modell lässt deutlich mehr Flexibilität bei der Verwendung dieser 3,5 % zu. Im Rahmen eines Systems, das als „personalisiertes Projekt“ bekannt ist, werden Mittel für einzelne Nutzer bereitgestellt, um ihre allgemeine Genesung und nicht nur die Behandlung zu fördern – dies kann bedeuten, dass ihre Wohn- oder Schulkosten bezuschusst werden, dass in die Ausbildung investiert wird oder dass ihnen bei der Arbeitssuche geholfen wird.

„Etwa ein Viertel des Etats der kommunalen psychosozialen Dienste ist für personalisierte Projekte vorgesehen“, sagt Sari Massiotta, Leiterin des Verwaltungsbereichs Koordination und Entwicklung bei ASUGI. 

Die personalisierten Projekte werden von einem Netz von elf sozialen Kooperativen unterstützt – gewinnorientierte Unternehmen, die eng mit ASUGI zusammenarbeiten, um den Nutzern dabei zu helfen, ein Einkommen zu erzielen. Anfänglich werden die Gehälter der Nutzer über ihren persönlichen Projektetat finanziert, später werden sie oft in Vollzeit angestellt. 

Die sozialen Genossenschaften sind es gewohnt, mit den Nutzern zusammenzuarbeiten, und bereit, auf deren Bedürfnisse einzugehen. 

„Es besteht immer die Gefahr eines Rückfalls“, sagt Stefania Grimaldi von der sozialen Genossenschaft La Collina, die der Stadt administrative und kulturelle Dienstleistungen anbietet. „Für uns ist das keine dramatische Situation – wir entscheiden gemeinsam mit der Person und dem kommunalen Psychiatriedienst, ob wir Krankmeldungen nutzen, damit niemand seinen Arbeitsplatz verliert.“

Als persönlich Betroffene empfand Tamara Lipovec dies als entscheidend für ihre eigene Genesung: „Arbeit ist eine der wichtigsten Säulen, um sich nach einer Krise wieder aufzubauen.“

„Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal als Arbeitnehmer im System sein würde, nicht nur als Nutzer“, sagt Michele Sipala, ein weiterer Nutzer.

„Unsere öffentlichen Einrichtungen versuchen nicht, die Kosten zu minimieren, sondern den Nutzen und die Auswirkungen auf die Gemeinschaft zu maximieren“, sagt Massiotta und fügt hinzu: „Deshalb ist es so wichtig, mit lokalen Organisationen zusammenzuarbeiten, die versuchen, das Wohl der gesamten Gemeinschaft zu verbessern.“

„Es ist wirklich erstaunlich“, sagte ein Delegierter aus Kasachstan. „In dem Zentrum machen sie alles Mögliche mit den Nutzern.“

Wie geht es weiter?

Am Ende des Studienbesuchs herrschte unter den Delegierten aus den zentralasiatischen Ländern Aufbruchstimmung.

„Psychische Gesundheit ist gesellschaftliche Gesundheit“, sagte ein Delegierter aus Usbekistan. „Es war sehr wichtig, dass all diese Aspekte – soziale, rechtliche und geschlechtsspezifische Aspekte – berücksichtigt wurden.“

„Wir haben so viel gelernt“, sagte ein Delegierter aus Kirgisistan. „Das Wichtigste ist, dass man eine Strategie hat. Wir müssen die Leute dazu bringen, ihre Geschichten zu erzählen, und eine Sammlung mit Erfolgsgeschichten von Menschen erstellen, die unsere psychosozialen Angebote in Anspruch genommen haben.“

Eine Delegierte aus Turkmenistan räumte ein, dass die Situation in Triest zwar ganz anders sei als in ihrem Land, dass es aber durchaus Spielraum für Verbesserungen gebe. „Wir beziehen bewusst verschiedene Gruppen in die Entscheidungsprozesse ein, aber nicht Menschen mit psychischen Erkrankungen. Jetzt müssen wir beginnen, auch sie einzubeziehen.“

Sie fügte hinzu: „Wir wollen alles anwenden, was wir können – aber wie gehen wir dabei vor?“

„Ich bin nicht der Meinung, dass wir das in unseren Ländern nicht anwenden können; man sollte niemals nie sagen. Wir können immer etwas verändern“, sagte ein Delegierter aus Kasachstan.

Die WHO plant Folgeveranstaltungen mit jedem der Länder, um herauszufinden, wie die gewonnenen Erkenntnisse in der Praxis angewendet werden können. Außerdem organisiert sie weitere Studienbesuche in Triest, darunter einen Besuch aus der Ukraine im Dezember 2023.