„Eine Notlage lässt dich alles, was du über die Gesundheitsversorgung gelernt hast, vergessen“, erklärt Rut Erdelyiova, eine in der Slowakei tätige Beraterin für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung. „Es ist nicht länger diese sterile Umgebung, in der du weißt, was du leisten musst. Es geht vielmehr darum, rauszugehen, um Menschen zu treffen, die gerade etwas durchgemacht haben, das ihre Wirklichkeit vollkommen umgestaltet hat, und dabei zu versuchen zu verstehen, wie sie sich fühlen und was wir für sie in dieser Situation tun können.“
Rut ist Mitglied eines kleinen, aber engagierten Teams von Experten von WHO/Europa, die seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine den Großteil ihrer wachen Stunden der Koordination von Aktivitäten im Bereich psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung widmen – Aktivitäten, die entscheidend sind, um das Leid der Menschen zu lindern und langfristige Folgen für die psychische Gesundheit, wie etwa posttraumatische Belastungsstörungen, zu verhindern.
„Wir arbeiten selbstverständlich mit ganz unterschiedlichen Bereichen zusammen, insbesondere mit solchen, die sich mit Kinderschutz, geschlechtsspezifischer Gewalt und Gesundheit befassen“ erzählt Selma Sevkli, eine Psychologin, die innerhalb weniger Tage nach Beginn des Krieges nach Polen entsandt wurde. „Darüber hinaus konzentrieren wir uns auf die Bewusstseinsschärfung, Aus- und Weiterbildung und Überzeugungsarbeit für diese Bereiche und helfen ihnen zu verstehen, dass psychische Gesundheit nicht nur aus psychologischer Beratung besteht, sondern es auch darum geht, den Menschen zu helfen, ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen.“
WHO/Europa hat viele solcher Experten in unterschiedliche Länder entsandt, die große Zahlen an Flüchtlingen aus der Ukraine aufgenommen haben, um Angebote im Bereich der psychischen Gesundheit und psychosozialen Unterstützung zu koordinieren und dabei mit den Regierungen der Aufnahmeländer, mit humanitären Organisationen und insbesondere mit den Flüchtlingen selbst zusammenzuarbeiten.
Dank ihrer unermüdlichen Anstrengungen konnten viele Flüchtlinge die Angebote in Anspruch nehmen, auf die sie angewiesen sind.
Warum sie tun, was sie tun
Die Experten für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung von WHO/Europa sind eine Mischung aus Psychiatern, Psychologen und humanitären Hilfskräften, von denen einige bereits zuvor Erfahrungen mit Notlagen gesammelt hatten.
„Ich habe in den frühen 1990er Jahren während des Krieges [im ehemaligen Jugoslawien] mit dieser Arbeit begonnen“, erklärt Boris Budošan, der nach Tschechien entsandt wurde, um das Land zu unterstützen. „Ich war ein ganz normaler Arzt, und ich hatte nie geplant, diese Art von Arbeit zu leisten; es war wohl meine Bestimmung. Ich mache immer noch weiter, denn nach all dieser Zeit fühle ich ein Verantwortungsbewusstsein, mein Wissen und meine Erfahrungen mit anderen zu teilen.“
Joanna Brzezinska, die Polen unterstützt, war zunächst als freiwillige Psychologin tätig als der Krieg begann, doch sie stellte fest, dass sie das Bedürfnis hatte, in größerem Maßstab zu helfen. „Mir wurde bewusst, dass ich ungeduldig bin. Ich kann mich nicht einfach darauf konzentrieren, Einzelpersonen zu beraten und therapieren, wenn die Notlage systemisch ist.“
„Es ist irgendwann wie ein Drang“, erklärt Selma, die begann, im Außeneinsatz zu arbeiten, nachdem sie im Alter von gerade einmal 18 Jahren in der Türkei ein Erdbeben überlebt hatte. „Was mich motiviert? Wenn ich sehe, welche Wirkung unsere Arbeit hat. Als zum Beispiel im letzten Jahr die Gesundheitsministerien der Ukraine und Polens zusammenarbeiteten, um zu gewährleisten, dass die Flüchtlinge bei Bedarf Zugang zu Psychopharmaka erhalten.“
Sorana Mocanu, die als Psychotherapeutin in Rumänien tätig ist, braucht diese Verbindung zu den Menschen, die sie betreut und unterstützt. „Ich versuche, mit unseren integrierten Kliniken in Kontakt zu bleiben“, erklärt sie. „Dort kann man sich einem Realitätscheck unterziehen. Es geht nicht um all die Menschen, die du in deiner Tabelle hast – es geht darum, dass dieser eine Junge jetzt zu einem Psychologen gehen kann und seine Mutter aufhören kann zu weinen und etwas Zeit für sich selbst hat.“
Das Gleiche gilt auch für Murat Apaydin, einem der Koordinatoren des Teams.
„Mir macht die Arbeit im Bereich psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung Spaß, denn jeder Mensch hat seine eigene Geschichte und Stärken und Schwächen, und sie sind voller interessanter Ideen“, erzählt er. „All diese neuen Menschen zu treffen, motiviert mich bei meiner Arbeit.“
Auf seine eigene Gesundheit achten
Doch das Team zahlt einen hohen emotionalen und körperlichen Tribut in Zusammenhang mit der ukrainischen Flüchtlingskrise.
Rut erzählt: „Ich habe zum ersten Mal verstanden, wie es sich anfühlt, wenn man jemandem die Hand hält, der gerade erfahren hat, dass einer seiner Angehörigen verstorben ist, oder wie es ist, mit einer Mutter zu sprechen, die weiß, dass sie ihren ältesten Sohn nie wiedersehen wird.“
Vor diesem Hintergrund ist Selbstfürsorge unerlässlich. Maura Reap, eine Psychologin, die die Republik Moldau unterstützt, nutzt ihre freie Zeit, um künstlerisch tätig zu sein. „In den wenigen Stunden, die mir zwischen Schlafen und Arbeiten bleiben, widme ich mich gerne künstlerischen Aktivitäten. Ich bin nicht besonders talentiert, aber ich mag es, da es mir hilft, den Stress des Tages abzubauen.“
Diese Liebe zur Kunst schlägt sich auch in ihrer Arbeit nieder – im Januar tat sie sich mit der Internationalen Organisation für Migration zusammen, um Psychologen und an vorderster Front tätige Gesundheitsfachkräfte darin zu schulen, wie sich Kunst nutzen lässt, um Flüchtlingen dabei zu helfen, sich selbst auszudrücken.
Für Andrea Paiaito, der Bulgarien unterstützt, geht es bei der Stressbewältigung darum, den größeren Zusammenhang zu betrachten. „Wenn humanitäre Helfer in der Lage sind, ihre eigenen Grenzen zu verstehen und mit diesen ins Reine zu kommen, nimmt ihnen das einen Großteil des Stresses.“ Er gibt zu, dass es Jahre gedauert hat, bis er dies selbst gelernt hatte.
Olga Khan, die neben Joanna ebenfalls Polen unterstützt, merkt an, dass es, selbst wenn man weiß, wie man auf seine eigene Gesundheit achtet, schwierig sein könne, dies umzusetzen, insbesondere, wenn in der humanitären Arbeitskultur oftmals Überstunden und Überlastung einen hohen Stellenwert einnehmen. „Niemanden kümmert es, dass du unter einem Burnout leidest – im Vordergrund stehen immer die Hilfsmaßnahmen, alles andere ist zweitrangig.“
Aus diesem Grund ist sie dankbar, dass sie ihre Kollegin Joanna hat. „Ich bin unglaublich froh, dass sie mit mir hier ist.“
Was macht einen guten Experten für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung aus?
„Man muss authentisch sein“, erklärt Boris. „Man muss sein, wie man ist. Wenn man vorgibt, jemand anderer zu sein, merken das die Menschen sofort.“
Andrea führt aus: „Neben dem vorhandenen Fachwissen ist ein gewisser Grad an Liebenswürdigkeit, öffentlicher Diplomatie oder Führungskompetenz erforderlich.“ Und tatsächlich ist ein zentrales Element der Arbeit im Bereich psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung, die betroffenen Gemeinschaften einzubeziehen, etwa in die Planung und in die Ermöglichung des Zugangs zu Angeboten, die sie benötigen.
„In der Lage zu sein zuzuhören, ein echtes Interesse daran zu haben, was andere Menschen zu sagen haben, das sind auf jeden Fall grundlegende Anforderungen“, erklärt Maura. „Wenn man nicht zuhören kann... Man kann sämtliche Bücher der ganzen Welt lesen, aber wenn man nicht zuhört, kann man nicht effektiv sein.“
Murat ist zudem der Ansicht, dass Organisationstalent wichtig ist. „Ich stehe mit acht oder neun Ländern in Kontakt, manchmal täglich, und ich kriege so viele Updates über Ministerien, nichtstaatliche Organisationen, die Menschen selbst. Ich kriege also jeden Tag große Mengen an Informationen, die ich verarbeiten muss.“
Für Joanna und Olga kommt es in erster Linie auf Einfühlungsvermögen, Kommunikation und die Fähigkeit an, Dinger nüchtern und objektiv zu betrachten. „Es gibt so viele Experten für Psychologie und psychische Gesundheit“, erklärt Joanna. „Doch nicht jeder verfügt über Weitblick und strategische Einsicht.“
Die Zukunft des Bereichs psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung in den Aufnahmeländern von Flüchtlingen
Die Koordination dieser Gruppe von Experten durch WHO/Europa ermöglichte den Austausch wesentlicher Informationen in Echtzeit sowie gegenseitige Unterstützung und gegenseitiges Lernen. Nun teilen sie ihre Erfahrungen in größerem Umfang, auch im Rahmen einer hochrangigen Konsultation, die am 18. und 19. April 2023 in Bratislava (Slowakei) abgehalten wurde.
Jetzt, da die akute Phase der Notlage vorüber ist, widmet sich das Team der Stärkung der vorhandenen psychologischen Unterstützung in den Aufnahmeländern der Flüchtlinge.