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WHO/Europa fordert dringende Maßnahmen zur Bekämpfung von oralen Erkrankungen, da Europäische Region die weltweit höchsten Raten verzeichnet

20 April 2023
Medienmitteilung
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Ein neuer Bericht zeigt, dass mehr als die Hälfte aller Erwachsenen in der Europäischen Region der WHO im Jahr 2019 an einer schwerwiegenden Munderkrankung litten – die höchste Prävalenz weltweit. Deshalb werden die Mitgliedstaaten eindringlich aufgefordert, den Zugang zu einer sicheren, wirksamen und bezahlbaren zahnmedizinischen Grundversorgung im Rahmen einer allgemeinen Gesundheitsversorgung zu verbessern. 

Kopenhagen, 20. April 2023

Eine allgemeine Gesundheitsversorgung ist ohne Mundgesundheit nicht möglich. Der Leistungsumfang der staatlichen Krankenversicherung muss den Zugang zu zahnmedizinischen Leistungen einschließen, entweder kostenlos oder zu einem Preis, den sich die Menschen leisten können. So lautete die zentrale Botschaft des neuen Sachstandsberichts zur Mundgesundheit in der Europäischen Region der WHO. Dieser Appell erfolgt als Reaktion auf die alarmierenden Zahlen des Berichts, wonach die Europäische Region (die 53 Länder in Europa und Zentralasien umfasst) weltweit die höchste Prävalenz schwerer Munderkrankungen und die höchste Prävalenz von Karies – Hohlräume und Zahnverfall – bei bleibenden Zähnen aufweist. 

Wichtigste Ergebnisse 

Die jüngsten Daten verdeutlichen: 
  • Europa weist von den sechs Regionen der WHO die höchste Prävalenz schwerer oraler Erkrankungen (50,1 % der erwachsenen Bevölkerung) auf. Dies schließt die höchste Prävalenz von Karies an bleibenden Zähnen von allen WHO-Regionen ein, die mit 33,6 % der Bevölkerung der Europäischen Region fast 335 Mio. Fällen im Jahr 2019 entspricht.
  • Die Europäische Region hatte den zweithöchsten Anteil an Fällen von Zahnverlust (25,2 %): etwa 88 Mio. Menschen in der Altersgruppe über 20 Jahre. Dies entspricht einer Prävalenz von 12,4 %, der höchsten unter den WHO-Regionen und fast doppelt so hoch wie die weltweite Prävalenz von 6,8 %.
  • Die Europäische Region wies von allen WHO-Regionen mit fast 70 000 Fällen auch die zweithöchste geschätzte Zahl neuer Fälle von Mundhöhlenkrebs auf, was 18,5 % der geschätzten Gesamtzahl der Fälle weltweit entspricht. 2020 waren in der Europäischen Region mehr als 26 500 Todesfälle auf orale Krebserkrankungen zurückzuführen.
  • Von den 53 Ländern der Europäischen Region hatten 34 (66,7 %) keine nationale Politik für Mundgesundheit. 
  • In elf Ländern (23,4 %) gab es in der für nichtübertragbare Krankheiten zuständigen Abteilung des Gesundheitsministeriums kein spezielles Personal für Mundgesundheit. 
In dem Bericht werden die Fortschritte in einigen Bereichen geschildert, darunter ein deutlicher Rückgang (7,2 %) der Prävalenz von Karies an Milchzähnen bei Kindern im Alter von 1 bis 9 Jahren zwischen 1990 und 2019 sowie ein Rückgang (3,9 %) der Prävalenz von Karies an bleibenden Zähnen in derselben Altersgruppe. Doch das Gesamtbild ist zutiefst besorgniserregend.

Die Bedürftigsten haben den geringsten Zugang zur Gesundheitsversorgung

Die zahnmedizinische Versorgung erfolgt überwiegend durch private gebührenpflichtige Zahnärzte, und deshalb müssen die meisten Patienten hohe Zahlungen aus eigener Tasche leisten. 

Staatliche Programme und Versicherungsträger decken die zahnmedizinische Versorgung nur teilweise oder gar nicht ab. 

Innerhalb der Europäischen Region gaben 10 Länder weniger als 10 US-$ pro Person und Jahr für die zahnmedizinische Versorgung aus, und 14 Länder gaben zwischen 11 und 50 US-$ aus. Dies ist äußerst problematisch, da Untersuchungen belegen, dass Menschen mit dem größten Bedarf an zahnmedizinischen Leistungen den geringsten Zugang zu diesen haben. 

Gesundheit beginnt im Mund

„Die zahnmedizinische Versorgung ist ein wesentlicher Bestandteil der Gesundheitsversorgung. Viele unserer menschlichen Grundfunktionen – Sprechen und Kommunizieren, Essen, Atmen und nicht zuletzt Lächeln – hängen von einer guten Mundgesundheit ab“, erklärte Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa. „Unbehandelte Karies kann die Lebensqualität in jedem Alter beeinträchtigen, ist aber in der Kindheit besonders nachteilig, da sie Probleme verursacht, die ein Leben lang anhalten können. Bei Kindern wirkt sich Zahnkaries nachteilig auf den Schulbesuch und die schulischen Leistungen aus. Schwere unbehandelte Karies kann Ernährung und Wachstum beeinträchtigen. In vielen Ländern mit hohem Volkseinkommen ist das Ziehen kariöser Zähne unter Vollnarkose der Hauptgrund für Krankenhausaufenthalte von Kleinkindern. Bei Erwachsenen kann unbehandelte Karies eine der Hauptursachen für Fehlzeiten sein und die Lebens- und Arbeitsqualität beeinträchtigen. Die Mundgesundheit wirkt sich auf so viele Bereiche unseres Lebens aus, erhält aber in der Gesundheitspolitik und in Kostenerstattungskonzepten nur selten die Aufmerksamkeit, die sie verdient.“ 

Dr. Carina Ferreira Borges, Leiterin des Programms für Alkohol und illegale Drogen bei WHO/Europa, fügte hinzu: „Es gibt deutliche Belege dafür, dass orale Erkrankungen benachteiligte und marginalisierte Gruppen unverhältnismäßig stark betreffen, also Geringverdiener, Menschen mit Behinderungen, Senioren, die allein oder in Pflegeheimen leben, Menschen auf der Flucht, Häftlinge oder Bewohner ländlicher Gebiete. Die Empfehlungen in diesem Bericht gehen auch auf diese Ungleichheiten ein und lenken die Ressourcen dorthin, wo sie am dringendsten benötigt werden.“ 

Schädliche Einflussfaktoren

Orale Erkrankungen werden hauptsächlich durch Zuckerkonsum, Tabak- und Alkoholkonsum, Verletzungen und mangelnde Mundhygiene verursacht. Aus politischer Sicht sind die wichtigsten Einflussfaktoren: 
  • die Verfügbarkeit von Substanzen mit hohem Zuckergehalt, insbesondere von zuckergesüßten Getränken;
  • eine aggressive Vermarktung von Substanzen mit hohem Zuckergehalt, insbesondere an Kinder, sowie von Tabak- und Alkoholprodukten;
  • ein unzureichender Zugang zur zahnmedizinischen Versorgung im Rahmen der primären bzw. kommunalen Gesundheitsversorgung;
  • eine unzureichende Versorgung mit Fluorid in der Wasserversorgung und in Mundhygieneprodukten wie Zahnpasta.

Empfehlungen

„Zahnkaries ist die häufigste nichtübertragbare Krankheit weltweit – aber das muss nicht sein. Wir wissen, was wir tun müssen. Ziel dieses Berichts ist es, Regierungen und Gesundheitsbehörden zu ermutigen, den Zugang zu einer sicheren, effektiven und bezahlbaren zahnmedizinischen Grundversorgung im Rahmen des Leistungsumfangs der allgemeinen Gesundheitsversorgung in den Ländern zu verbessern“, fügte Dr. Kluge hinzu. „Dies ist der beste Weg, um Benachteiligungen im Bereich der Mundgesundheit zu beseitigen und gleichzeitig verschiedene nichtübertragbare Krankheiten zu bekämpfen und so die Gesundheit der Bevölkerung insgesamt zu verbessern.“ 

Die in dem neuen Bericht von WHO/Europa enthaltenen Empfehlungen dienen der Ergänzung des Globalen Aktionsplans für Mundgesundheit, in dem 100 Handlungsvorschläge für die Mitgliedstaaten, das Sekretariat der WHO sowie internationale Partnerorganisationen, zivilgesellschaftliche Organisationen und privatwirtschaftliche Akteure skizziert werden und der von einem globalen Kontrollrahmen zur Mitverfolgung der Fortschritte bei der Umsetzung begleitet wird. 

Zu den wichtigsten Empfehlungen des neuen Berichts für die Europäische Region gehören insbesondere folgende Ratschläge an die Regierungen: 
  • Entwicklung neuer nationaler Konzepte für Mundgesundheit, die an der Globalen Strategie der WHO für Mundgesundheit und den nationalen Konzepten für nichtübertragbare Krankheiten und eine allgemeine Gesundheitsversorgung ausgerichtet sind;
  • Bereitstellung von Personal und Mitteln für Mundgesundheit beim Gesundheitsministerium oder bei einer anderen staatlichen Gesundheitsbehörde, um eine Einbeziehung in die Ziele in den Bereichen nichtübertragbare Krankheiten und allgemeine Gesundheitsversorgung sicherzustellen;
  • Einführung politischer Maßnahmen zur Verringerung der Aufnahme von freiem Zucker, z. B. durch obligatorische Nährwertkennzeichnung auf vorverpackten Lebensmitteln, Zielvorgaben für die Reformulierung zur Verringerung des Zuckergehalts in Lebensmitteln und Getränken, öffentliche Maßnahmen zur Beschaffung von Lebensmitteln, um das Angebot an zuckerhaltigen Lebensmitteln zu reduzieren, Maßnahmen zum Schutz von Kindern vor den schädlichen Auswirkungen von Lebensmittelwerbung sowie Steuern auf zuckergesüßte Getränke und stark zuckerhaltige Lebensmittel;
  • Einbeziehung der zahnmedizinischen Versorgung in die primäre Gesundheitsversorgung auf allen Ebenen, mit der nötigen Personalausstattung, dem erforderlichen Qualifikationsmix und den entsprechenden Kompetenzen; 
  • Entwicklung eines innovativen Arbeitskräftemodells für den Bereich Mundgesundheit, das zahnmedizinische Fachkräfte und andere Beschäftigte in der primären Gesundheitsversorgung einschließt, um den Bedürfnissen der Bevölkerung im Bereich der Mundgesundheit gerecht zu werden. 
Bei der Vorstellung des neuen Berichts am Sitz des WHO-Regionalbüros für Europa in Kopenhagen sagte Dr. Gauden Galea, Strategischer Berater der Sonderinitiative des Regionaldirektors für nichtübertragbare Krankheiten und Innovation bei WHO/Europa: „Die Argumente für eine Ausweitung der allgemeinen Gesundheitsversorgung und eine Stärkung der Politik in den Bereichen Ernährung sowie Tabak- und Alkoholkonsum sind aus gesundheitlicher, menschenrechtlicher und ökonomischer Sicht überzeugend. So können wir die Mundgesundheit und eine Reihe anderer gesundheitlich relevanter Bereiche wie Diabetes, Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen radikal verbessern. Die Verantwortung für sämtliche zentralen Handlungsfelder liegt bei der Regierung und der Gesundheitspolitik. Wir bei WHO/Europa stehen bereit, um unsere Mitgliedstaaten dabei zu unterstützen. Lassen Sie uns gemeinsam darauf hinarbeiten, die Mundgesundheit im Rahmen einer allgemeinen Gesundheitsversorgung zu verwirklichen.“