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Türkisch-syrisches Grenzgebiet: Schutz der übersehenen und gefährdeten Menschen nach den Erdbeben

27 February 2024
Pressemitteilung
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Wie reagiert das Gesundheitspersonal, wenn die Stadt, in der es lebt, von einem schweren Erdbeben heimgesucht wird? Wie sieht die unmittelbare Reaktion aus, und was kommt danach? Welche Rolle spielt die Weltgesundheitsorganisation bei einer Naturkatastrophe größeren Ausmaßes, wie sie sich vor etwa einem Jahr in der Türkei und Syrien ereignete? 

Die Erdbeben vom Februar 2023 wurden schnell zu einer noch nie dagewesenen Herausforderung für das Team der WHO in Gaziantep – einer Grenzstadt zwischen den beiden Ländern, von der aus die WHO ihre grenzüberschreitenden Operationen im Nordwesten Syriens durchführt. 

Von Anfang an war klar, dass die Mitarbeiter der WHO ihre Kreativität einsetzen und unkonventionelle Lösungen finden mussten, um die zahlreichen Herausforderungen und das Ausmaß der Folgen des Erdbebens auf beiden Seiten der Grenze zu bewältigen.

Die ersten 48 bis 72 Stunden

„Unmittelbar nach dem Erdbeben wurde klar, dass wir sämtliche angelegten Vorräte verteilen mussten, um Trauma-Kits und andere lebenswichtige Medikamente für so viele Menschen wie möglich bereitzustellen“, erklärt Dr. Abdul Baki Mahmoud, Fachreferent der WHO und einer der Koordinatoren der Erdbebenhilfe für die Vertriebenen in Gaziantep.

„In den ersten 48 bis 72 Stunden haben wir Hilfsgüter verschickt und gleichzeitig versucht, unsere Familien und viele unserer Kollegen, die ebenfalls von der Katastrophe betroffen waren, in Sicherheit zu bringen“, erinnert sich Dr. Mahmoud.

Eine weitere Priorität, die sich bereits in den ersten Stunden nach dem verheerenden Erdbeben abzeichnete, war die Bereitstellung psychosozialer Angebote für die Überlebenden und die Einsatzkräfte.

Chronische Erkrankungen werden lebensbedrohlich 

Wenn Gesundheitssysteme während Notlagen beeinträchtigt sind, müssen die Helfer vor Ort innovative Wege finden, um den besonders gefährdeten Menschen zu helfen: Menschen mit Diabetes, Bluthochdruck, Krebs und anderen nichtübertragbaren Krankheiten. 

Das war auch nach den Erdbeben in der Türkei und in Syrien der Fall.

Etwa eine Woche nach der Katastrophe organisierten wir ein systematischeres Treffen der fachlichen Arbeitsgruppen der WHO in Gaziantep, um unsere Versorgungswege neu zu organisieren, unsere mobilen Teams zu aktivieren und andere dringende Bedürfnisse zu ermitteln. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Prävention und Behandlung nichtübertragbarer Krankheiten zu einem unserer Hauptschwerpunkte“, erklärt Dr. Mahmoud.

Nichtübertragbare Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes und chronisch obstruktive Lungenerkrankungen sind für ca. 90 % aller Todesfälle in der Europäischen Region der WHO verantwortlich. Viele von ihnen können unter Kontrolle gehalten werden, wenn die Infrastruktur intakt ist und die Gesundheitssysteme funktionieren. 

Doch wenn während Notlagen der Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten unterbrochen wird, können nichtübertragbare Krankheiten schnell zu einer akut lebensbedrohlichen Gefahr werden. 

„Der innovative Ansatz der WHO ging über die unmittelbare Erdbebenhilfe hinaus. Auf der Grundlage von Erkenntnissen aus dem breiteren humanitären Kontext haben wir mit Hilfe eines Koordinierungssystems, das sich auf fachliche Arbeitsgruppen stützt, die Vereinheitlichung und Organisation von Gesundheitsinterventionen vorangetrieben“, sagt Rosa Crestani, Leiterin des WHO-Büros in Gaziantep. 

Auf der Suche nach innovativen Lösungen

Als entscheidend für den Erfolg und die Reichweite der ergriffenen Maßnahmen erwies sich die Innovation, bei der erheblich aus der jahrelangen Erfahrung mit grenzüberschreitenden Hilfsmaßnahmen aus der südlichen Türkei nach Syrien geschöpft wurde. 

„Die agile Reaktion auf die Folgen der Katastrophe in Gaziantep ist eine wertvolle Fallstudie für die WHO“, erklärt Crestani, denn die Katastrophe zwang die Teams der WHO dazu, nach innovativen Lösungen zu suchen, über konventionelle Praktiken hinauszugehen und sich rasch an eine sich ständig verändernde Situation anzupassen.

In der kritischen Anfangsphase der Notlage stellte die WHO von dem traditionellen Modell einer vorab festgelegten und zentralisierten Verteilung standardisierter Versorgungspakete auf ein sog. „Expression-of-Interest-System“ um, das es den Partnerorganisationen vor Ort ermöglichte, dringend benötigte spezifische Medikamente und Hilfsgüter anzufordern. So wurde sichergestellt, dass die für die unmittelbare Verwendung wichtigsten Güter vorrangig behandelt wurden.

Ansprechen, was oft übersehen wird

Ein weiteres Beispiel für das flexible Vorgehen der WHO in Krisenzeiten ist die Sonderarbeitsgruppe Dialyse, die angesichts des erhöhten Bedarfs an Dialysen nach den Erdbeben eingerichtet wurde. In Zusammenarbeit mit externen Experten, u. a. von der Johns Hopkins University, führte die Sonderarbeitsgruppe unter direkter Rechenschaftslegung gegenüber der WHO ein Projekt zur Qualitätsverbesserung für Dialysezentren durch, wobei ihre Mitglieder jeden einzelnen Schritt koordinierten und laufend überprüften. 

Dieses Projekt gewährleistet die Kontinuität der Versorgung von Dialysepatienten, einer gefährdeten Gruppe, die während Notlagen oft übersehen wird. Gleichzeitig ermöglichte es eine rasche Wiederherstellung des Leistungsangebots sowie die Deckung des erhöhten Bedarfs von Patienten mit Kompressionssyndrom – einer schweren systemischen Manifestation einer Verletzung mit Ischämie aufgrund einer lang anhaltenden Quetschung von Gewebe. Ziel sei es, die Versorgung ständig zu verbessern, erklärt Crestani abschließend.