Kurz nach Beginn des Krieges floh Tetiana aus der Stadt Mykolajiw, wo sie mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn Bogdan lebte. Zusammen mit Bogdan sowie ihrer Schwester, ihrem Neffen und einer Freundin machte sich Tetiana auf die extrem gefährliche Reise ins sichere Moldau. Die Reise hatte Auswirkungen auf Tetianas psychische Gesundheit, doch mit Hilfe der psychischen und psychosozialen Unterstützung blickt sie inzwischen wieder mit mehr Hoffnung in die Zukunft.
„Meine Erfahrungen haben mich wesentlich älter gemacht, als ich eigentlich bin“, sagt sie. „Ich bin in einem guten Alter.“
Die 25-jährige Tetiana und ihr 5-jähriger Sohn Bogdan leben seit 7. März 2022 in der Republik Moldau, nachdem sie vor den intensiven Bombenangriffen auf ihre Heimatstadt Mykolajiw in der Ukraine geflohen waren. Die gelernte Ernährungswissenschaftlerin sah sich gezwungen, ihre komfortable Wohnung zu verlassen, die sie sich mit ihrem Mann teilte, um sich und ihr Kind in Sicherheit zu bringen.
„Ich dachte, es ist Unsinn, wenn die Leute Konserven und Kerzen kaufen, um sich auf ein Leben unter Belagerung vorzubereiten“, sagt sie. „Wir leben im 21. Jahrhundert. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass wir in Europa noch einmal Krieg erleben würden.“
„Am Morgen des 24. Februar 2022 wurden wir um 5 Uhr früh von Explosionen geweckt. Unsere Wohnung liegt in der Nähe eines militärischen Übungsplatzes, sodass wir daran gewöhnt sind, Schüsse zu hören. Es war noch dunkel, aber als ich auf mein Telefon sah, erfuhr ich, dass überall in der Ukraine Bombenangriffe stattfanden.“
Die Familie bemerkte bald, dass die Lage ihrer Wohnung, zwischen der strategisch wichtigen Varvarovsky-Brücke und der militärischen Einrichtung, sie zu sehr wahrscheinlichen Angriffszielen machte. Sie suchten nachts Zuflucht im Keller von Nachbarn und schliefen unter feuchten Bedingungen, und dies hatte bald Auswirkungen auf Bogdans Gesundheit: er bekam einen schlimmen Husten.
„Am 7. März waren die Bombenangriffe in unserer Nachbarschaft besonders intensiv. Wir konnten die Raketeneinschläge deutlich hören. Mein Mann sagte zu mir, dass es für ihn das Wichtigste sei, dass Bogdan und ich sicher sind, und dass wir die Ukraine verlassen sollten. Ich konnte keine richtige Behandlung für Bogdans Husten bekommen, und ich konnte auch sehen, wie viel Angst er wegen der Bombenangriffe hatte. Jede Nacht brachte ich eine Tasche in den Keller mit, in der ich Kleidung, unsere Ausweispapiere und andere wichtige Dinge eingepackt hatte, falls unser Haus zerstört würde.“
„Wir entschieden uns dafür, nach Moldau zu fahren, weil mein Vater von dort kommt und es der nächstgelegene Grenzübergang war. Wir reisten mit meiner Schwester, meinem Neffen, meiner Freundin und ihrer Tochter. Die Reise war teuer, da wegen der Intensität der Angriffe alle zur gleichen Zeit fliehen wollten.“
„Die Reise war extrem gefährlich. Mykolajiw liegt am Bug, und der einzige Weg nach Odessa führt über die Varvarovsky-Zugbrücke. Die Luftschutzsirenen gingen los, als wir auf dem Weg zur Brücke waren, doch die Polizei schickte Fahrzeuge zurück, da die Zugbrücke hochgezogen war und wir sie nicht überqueren konnten. Der Bus konnte wegen des starken Verkehrs nicht umkehren, und wir saßen vier Stunden lang fest, und die Bomben flogen über uns hinweg, ohne dass wir Schutz suchen konnten. Es war die schlimmste Erfahrung in meinem ganzen Leben.“
„Schließlich hörten die Luftangriffe auf, und wir konnten weiterfahren. Die Grenze mit Moldau ist nur 100 km entfernt, aber wir brauchten dafür zwölf Stunden. Bei unserer Ankunft waren wir erschöpft, aber wir wurden von moldauischen Freiwilligen sehr freundlich begrüßt.“
Psychosoziale Unterstützung
Während der ersten Wochen konnten die Frauen und Kinder bei der Schwester von Tetianas Vater wohnen. Doch Tetiana war sehr darauf bedacht, nicht unnötig lange zu bleiben.
Zusammen mit ihrer Schwester, ihrer Freundin und den Kindern bekam Tetiana von den örtlichen Behörden einen Platz im Schlafsaal einer ehemaligen Schule zugewiesen. Zunächst hatte Tetiana Schwierigkeiten damit, ihre Erfahrungen zu verarbeiten.
„Am Anfang litt ich unter Depressionen. Es war äußerst schmerzlich für uns zu erfahren, was in der Ukraine passierte. Ich fühlte mich schuldig dafür, dass ich in Sicherheit war, während meine Familie und Freunde die Bombenangriffe und den Krieg ertragen mussten. Einige meiner Freunde aus der Schulzeit wurden eingezogen und manche getötet. Das Dorf, wo meine Mutter wohnt, wurde besetzt, und wir konnten nicht mir ihr kommunizieren, sodass wir nicht wussten, ob sie noch am Leben war, und ich hatte furchtbare Angst, dass ihr oder meinem Großvater etwas zugestoßen sein könnte.“
„Ich wusste, dass ich die für Bogdan richtige Entscheidung getroffen hatte und dass wir in Moldau in Sicherheit und im Warmen waren. Trotzdem machte mir das Ganze schwer zu schaffen.“
„Ich bin ziemlich reserviert, und es fällt mir schwer, mich gegenüber einem völlig fremden Menschen voll und ganz zu öffnen. Aber es gibt da eine Gruppe namens Petrinka, die uns jeden Sonntag besucht. Die Kinder basteln mit einer Freiwilligen, während wir mit den Psychologen in der Gruppe sprechen. Am Anfang fiel es mir echt schwer, mit ihnen zu reden, doch die Psychologen waren sehr geduldig, wenn es schwierig war, über bestimmte Dinge zu sprechen.“
„Inzwischen habe ich Vertrauen zu ihnen gefasst, und unsere Gespräche sind eher wie eine freundliche Unterhaltung. Sie haben mir dabei geholfen, an mir selbst zu arbeiten. In der Ukraine war ich immer so beschäftigt, dass ich mir kaum Zeit für mich selbst nahm. Ich hatte Angst davor, Risiken einzugehen und Dinge auszuprobieren, die nicht in meinem Komfortbereich lagen. Die Leute haben mir dabei geholfen zu verstehen, dass ich mich weiterentwickeln muss.“
„Wir fühlen uns bei den Einheimischen sehr willkommen. Die Moldauer sind sehr freundliche Menschen, obwohl sie durchaus ihre eigenen Probleme haben.“
„Ich kann sehen, dass Bogdan sich wirklich gut eingelebt hat. Er geht in den Kindergarten und hat dort Freunde gefunden. Wir lernen beide Rumänisch. Ich habe einen Putzjob gefunden, sodass ich etwas Geld habe, um das Nötigste für uns zu kaufen. Ich mache Kurse in Schönheitstherapie und hoffe, das nach der Rückkehr in meine Heimat weiter praktizieren zu können. Meine Mutter hat es inzwischen geschafft, zu uns nach Moldau zu kommen, und das ist schon eine große Erleichterung. Mein Mann hat es natürlich schwer, aber wir telefonieren so oft wie möglich, was wegen des Mangels an Strom manchmal schwierig ist.“
„Meine Hoffnung für die Zukunft ist Frieden für die Ukraine und dass ich wieder in mein Land zurückkehren kann. Mir ist klar, dass die Dinge nicht mehr so sein werden wie davor. Aber in der Zwischenzeit habe ich gelernt, im Augenblick zu leben, und weiß, dass ich mich weiterentwickeln kann, wenn ich mich meinen Ängsten stelle und neue Dinge ausprobiere.“