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Erklärung – Wir stehen an der Schwelle zu einer digitalen Revolution im Gesundheitswesen, doch Millionen Menschen könnten zurückgelassen werden

Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

5 September 2023
Aussage
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Guten Morgen aus der schönen Stadt Porto in Portugal! 

Zunächst möchte ich unseren großzügigen Gastgebern, der Regierung der Republik Portugal, und insbesondere dem Gesundheitsministerium und meinem Freund, Gesundheitsminister Dr. Manuel Pizarro, sowie Prof. Fernando Araujo, dem Exekutivdirektor des nationalen Gesundheitsdienstes, danken. 

Obrigado pela parceria. (Übersetzung: Danke für Ihre Partnerschaft.)

Als Vorreiter und frühzeitiger Anwender digitaler Gesundheitstools und -interventionen war Portugal eine offensichtliche Wahl, um dieses Zweite Symposium der WHO zur Zukunft digitaler Gesundheitssysteme in der Europäischen Region mit auszurichten. 

Ich freue mich auch, Ihnen mitteilen zu können, dass wir gerade eine Absichtserklärung mit der portugiesischen Regierung unterzeichnet haben, um hier in Porto ein neues WHO-Länderbüro zu eröffnen. Zu den Aufgaben des neuen Büros wird u. a. auch ein Sonderprojekt für Gesundheitstechnologien und Unternehmertum zählen. 

Ich bin sicher, dass meine portugiesischen Kolleginnen und Kollegen gleich mehr dazu sagen werden. 

Wir stehen an der Schwelle zu einer digitalen Revolution im Gesundheitswesen. 

Und während wir uns in rasendem Tempo auf diese digitale Zukunft zubewegen, müssen wir uns ein paar wesentliche Fragen stellen: 

Werden ihre Vorteile inklusiv sein? 

Werden unsere Daten sicher sein? 

Wie wird sie sich auf das Gesundheitspersonal auswirken? 

Es ist unverkennbar, dass digitale Gesundheit die Gegenwart und Zukunft unserer Gesundheitssysteme darstellt, daher MÜSSEN wir sicherstellen, dass es keine Gewinner oder Verlierer gibt, sondern dass jeder profitiert und niemand zurückgelassen wird. 

Heute veröffentlicht WHO/Europa einen bahnbrechenden neuen Bericht über den Stand der digitalen Gesundheit in der gesamten Europäischen Region. 

Er zeigt, dass in den letzten Jahren im Bereich der digitalen Gesundheit zwar erhebliche Fortschritte erzielt wurden, dass es aber nach wie vor erhebliche Herausforderungen und Lücken gibt, die es zu beseitigen gilt, um das Potenzial digitaler Tools und Interventionen zur Verbesserung der allgemeinen Gesundheit und des allgemeinen Wohlbefindens, zur Reduzierung der Belastung für das Gesundheitspersonal und zum Schutz der Privatsphäre voll auszuschöpfen. 

Die Europäische Region kann – und sollte – eine Führungsrolle im Bereich der digitalen Gesundheit einnehmen, denn wir starten von einer starken Position aus. 

Unser Bericht zeigt, dass die große Mehrheit der Länder in der Europäischen Region bereits über eine Strategie für digitale Gesundheit verfügt, eine Art von elektronischen Patientenakten nutzt und über Gesetze zum Schutz persönlicher Daten verfügt. 

Doch unsere Analyse offenbart auch, dass nur die Hälfte der Länder in der Europäischen Region der WHO über Konzepte zur Verbesserung der digitalen Gesundheitskompetenz verfügt, sodass Millionen Menschen zurückgelassen werden. 

Der Zugang zu digitalen Gesundheitstools ist nur dann von Nutzen, wenn man weiß, wie man sie anwendet. 

Es ist eine traurige Ironie, dass Menschen mit eingeschränkten oder gar keinen digitalen Fähigkeiten oft diejenigen sind, die am meisten von digitalen Gesundheitstools und digitalen Interventionen profitieren könnten – darunter etwa ältere Menschen, Behinderte oder ländliche Gemeinschaften. Für die digitale Umgestaltung des Gesundheitswesens ist es dringend notwendig, dieses Ungleichgewicht zu beheben. 

Wir haben zudem herausgefunden, dass die COVID-19-Pandemie die Nutzung digitaler Gesundheitstools beschleunigt hat, doch diese Nutzung war uneinheitlich und erfolgte oft auf Ad-hoc-Basis statt auf einer langfristigen strategischen Grundlage. 

Ein sich immer wieder zeigender Trend war der Mangel an finanziellen Ressourcen für die Finanzierung der entscheidenden Überwachung und Evaluation digitaler Gesundheitsinterventionen, die erforderlich sind, um Modelle und Algorithmen und damit letztendlich die Patientenversorgung zu verbessern. 

Nur 19 Länder haben Leitfäden für die Evaluierung digitaler Gesundheitsinterventionen entwickelt. 

Und angesichts der rasanten Zunahme von künstlicher Intelligenz und Big Data zeigt unser Bericht, dass nur 60 % der Länder eine Datenstrategie zur Regulierung der Nutzung von Big Data und fortschrittlicher Analytik im Gesundheitswesen entwickelt haben. 

Doch künstliche Intelligenz verändert die Welt, wie wir sie kennen – auch die Gesundheitsversorgung. Sie ermöglicht bisher unerreichte Fortschritte im Gesundheitsbereich, von effizienteren Diagnosen über eine sicherere Behandlung bis hin zu besserer Krankheitsüberwachung. Sie hat das Potenzial, Patienten besser in ihre eigene Versorgung einzubeziehen und mit Blick auf die Entwicklung neuer pharmakologischer Behandlungen die Geschwindigkeit zu erhöhen und die Kosten zu senken. 

Doch Aufstieg und Nutzung von künstlicher Intelligenz müssen sorgfältig reguliert und überwacht werden, um Gerechtigkeit und Transparenz zu gewährleisten, und dafür muss ein Konsens geschaffen werden, um ein Szenario, bei dem der Sieger alles gewinnt, zu vermeiden. 

Was also ist erforderlich, um das Potenzial der digitalen Gesundheit voll auszuschöpfen und unsere Gesundheitssysteme fit für das 21. Jahrhundert zu machen? 

Erstens müssen wir sicherstellen, dass jeder Haushalt und jede Gemeinschaft in der gesamten Region einen zuverlässigen, kostengünstigen Breitbandzugang erhält. Das ist absolute Voraussetzung. 

Zweitens müssen Regierungen und Gesundheitsbehörden anfangen, digitale Gesundheit als strategische langfristige Investition anzusehen, statt als Luxus Einzelner. Heute getätigte Investitionen werde sich später auszahlen. 

Drittens ist es entscheidend, Vertrauen in die digitale Gesundheit aufzubauen, damit diese genutzt wird. Ohne Vertrauen scheitert das ganze System. Wir werden nur dann in der Lage sein, digitale Gesundheitstools erfolgreich umzusetzen und digitale Ungleichgewichte erfolgreich zu beseitigen, wenn Patienten, Bürger und Gesundheitspersonal überzeugt sind, dass ihre Daten sicher sind.

Und schließlich – und das ist vielleicht der entscheidende Punkt – bedarf es einer deutlich stärkeren internationalen Zusammenarbeit und eines verstärkten internationalen Wissensaustauschs. Digitale Gesundheitstools, darunter auch elektronische Patientenakten, müssen über nationale und internationale Grenzen hinweg miteinander kommunizieren können – was wir als Interoperabilität bezeichnen –, um kosteneffektiv und wirkungsvoll zu sein. 

Zusammengefasst brauchen wir also: Konnektivität, Investitionen, Vertrauen und Kooperation. 

Wenn wir gemeinsam an diesen vier Punkten ansetzen, können – und werden – wir unsere digitalen Gesundheitssysteme auf eine neue Ebene heben. 

Ich danke Ihnen. Obrigado.