In der türkischen Provinz Hatay, einer Region, die von den massiven Erdbeben vor drei Monaten verwüstet wurde, bieten Zelte und Container nun Unterkunft für viele Erdbebenopfer, darunter auch Schwangere und neue Mütter. Daten der Vereinten Nationen zufolge waren schätzungsweise 2,4 Mio. Frauen im gebärfähigen Alter von den Erdbeben betroffen.
In Hatay kommen in einem normalen Monat etwa 14 000 Babys zur Welt. Um diesem enormen Bedarf gerecht zu werden, wurde Dr. Serap Şener vom WHO-Länderbüro in der Türkei damit beauftragt, das Gesundheitsministerium und das lokale Gesundheitssystem dabei zu unterstützen, den vom Erdbeben betroffenen Gemeinschaften Angebote der primären Gesundheitsversorgung zur Verfügung zu stellen, insbesondere im Bereich der reproduktiven Gesundheit und der Gesundheit von Frauen.
Die Auswirkungen der Erdbeben auf Mütter und Säuglinge
Die Folgen eines Erdbebens stellen Frauen und Säuglinge vor zahlreiche Herausforderungen, insbesondere in Bezug auf die reproduktive Gesundheit und das Stillen. Eine der größten Schwierigkeiten ist das Fehlen einer sicheren, komfortablen Wohnumgebung, was sich erheblich auf das physische und psychische Wohlbefinden auswirken kann.
Auch Hygiene ist ein wichtiges Thema, insbesondere in der Zeit nach der Geburt. Gegenwärtig entsprechen die Gemeinschaftsbereiche für Toiletten und Duschen nicht immer den grundlegenden sanitären Standards und bieten nicht die nötige Privatsphäre, so dass es Frauen und neuen Müttern schwer fällt, sich sicher zu fühlen.
„Frauen, die stillen, sind besonders betroffen, da sie keinen Zugang zu privaten Bereichen haben, wie es zu Hause der Fall wäre“, sagt Dr. Şener. „Das Leben in Zelten und Containern bedeutet, dass sie nicht in einem angenehmen Umfeld stillen können, was zu Problemen wie einer schmerzhaften Brustdrüsenentzündung führen kann. Ebenso haben schwangere Frauen Schwierigkeiten, einen bequemen Platz zu finden, an dem sie sich ausruhen können.“
Muttermilch liefert wichtige Nährstoffe und Antikörper, die in Notfällen besonders wichtig sind, da sie Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder vor Infektionen und Krankheiten schützen. Mit der richtigen Unterstützung kann der Körper einer Frau auch in stressigen Zeiten genügend Milch für ihr Baby produzieren.
Muttermilchersatzprodukten fehlen schützende Antikörper und andere wichtige Elemente, die für das Wachstum und die Entwicklung eines Babys entscheidend sind. Deshalb empfiehlt die WHO frühes und ausschließliches Stillen bis zum sechsten Monat und fortgesetztes Stillen bis zum Ende des zweiten Lebensjahres und darüber hinaus.
Muttermilchersatzprodukte erfordern zudem eine hygienische Zubereitung und sauberes Wasser; beides ist nach einer großen Katastrophe wie einem Erdbeben schwer zu gewährleisten. Die Folge ist ein erhöhtes Kontaminationspotenzial, das ungeschützte Säuglinge und Kinder einem hohen Risiko für Durchfallerkrankungen aussetzt.
Daher brauchen frischgebackene Mütter in erdbebengeschädigten Gebieten neben der Unterstützung beim Stillen auch Zugang zu privaten Räumen, sauberem Wasser und angemessenen sanitären Anlagen. Auch Mütter, die mit dem Stillen aufgehört haben, können wieder damit beginnen, wenn sie die richtigen Informationen und Unterstützung durch qualifizierte Helferinnen und Helfer erhalten.
„Der Stress in dieser Situation hat das Selbstvertrauen einiger Frauen eindeutig beeinträchtigt. Aber in einer Notlage kann sich das Stillen wiederum positiv auf die psychische Gesundheit von Müttern und Babys auswirken, da es ihnen in einer schwierigen Zeit ein Gefühl von Trost und Sicherheit vermittelt“, erklärt Dr. Şener.
Sozialer und psychologischer Wiederaufbau
Dr. Şener erlebt aus erster Hand, mit welchen Herausforderungen Frauen in den nach den Erdbeben errichteten provisorischen Siedlungen konfrontiert sind. „Selbst wenn alle Bedürfnisse erfüllt sind, gibt es nichts, womit man seine Zeit verbringen könnte. Man hat weder ein Zuhause noch eine Routine. Man ist zwar am Leben, aber alles scheint zum Stillstand gekommen zu sein, und man sitzt da und wartet, dass die Zeit vergeht.“
Dr. Şener ist der Ansicht, dass den psychologischen und sozialen Bedürfnissen der Frauen mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden muss. „Anzuerkennen, dass Frauen nicht nur Überlebende sind, sondern auch aktive Mitglieder der Gesellschaft, die zu deren Wiederaufbau beitragen können, ist meiner Meinung nach von entscheidender Bedeutung.“
Partnerschaftliche Zusammenarbeit
Bei einem kürzlichen Besuch in der Einrichtung für reproduktive Gesundheit in Hatay, die gemeinsam vom Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) und dem Verband der Fachleute für öffentliche Gesundheit (HASUDER) betrieben wird, konnte sich Dr. Şener davon überzeugen, wie schwangere Frauen in Lagern und Containern betreut werden, und erfuhr, dass spezielle Bereiche für Wöchnerinnen eingerichtet wurden. Diese Einrichtung ist jedoch die einzige ihrer Art in Hatay, und es werden dringend weitere benötigt.
Neben dem UNFPA ist auch das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) in den von den Erdbeben betroffenen Gebieten tätig, um auf die gesundheitlichen Bedürfnisse von Müttern und Säuglingen einzugehen.
Das türkische Gesundheitsministerium und die Provinzverwaltungen haben schwangere Frauen in den betroffenen Provinzen beobachtet, Kontakt zu ihnen aufgenommen und sie über die nächstgelegenen Gesundheitseinrichtungen für die Entbindung informiert. Darüber hinaus haben der HASUDER und die Vereinigung für Solidarität mit Asylbewerbern und Migranten (SGDD-ASAM) Hilfe über die Gemeinden koordiniert und Leistungen im Bereich der reproduktiven Gesundheit angeboten.
Um riskante Schwangerschaftsbedingungen in provisorischen Siedlungen zu vermeiden, hat die Gesundheitsdirektion ein System eingerichtet, um schwangere Frauen je nach Status und Risikostufe in Krankenhäuser in Adana oder Dörtyol zu schicken. Nach der Entbindung müssen die Frauen jedoch in provisorische Siedlungen zurückkehren, in denen es unter Umständen keine angemessene Hygiene gibt.
Das WHO-Länderbüro in der Türkei arbeitet daher mit dem Gesundheitsministerium und anderen Akteuren zusammen, um neue Wöchnerinnenpensionen und spezielle Container für Wöchnerinnen zu schaffen. Diese Initiative zielt darauf ab, eine sichere, komfortable Umgebung für Frauen zu schaffen, in der sie sich erholen und ihre Säuglinge versorgen können.
„Derzeit konzentrieren wir uns auf die Bemühungen des Ministeriums um den Wiederaufbau und die Stärkung der primären Gesundheitsversorgung in den erdbebengeschädigten Gebieten“, erläutert Dr. Şener. „Dies umfasst die Stärkung der Infrastruktur durch vorgefertigte Einheiten und die Gewährleistung, dass fehlende Materialien und Ausrüstung bereitgestellt werden.“
Er fügt hinzu: „Der zweite Schritt besteht darin, qualifiziertes Personal auszubilden, das in diesen Einrichtungen arbeiten wird. Um dies zu erreichen, entwickeln wir unterschiedliche Ansätze für die einheimische und die zugewanderte Bevölkerung, wobei der Schwerpunkt auf der Überwindung sprachlicher und kultureller Barrieren und der Wiederherstellung von Systemen liegt, die der einheimischen Bevölkerung vertraut sind. Unser Ziel? Zu gewährleisten, dass die Gesundheitsversorgung für alle Menschen zugänglich ist.“
Im vergangenen Jahr führte das WHO-Länderbüro Schulungen für Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums in Großstädten mit hohem Migrantenanteil durch, in denen es um die Notfallversorgung von Müttern und die Geburtshilfe ging. Viele der teilnehmenden Gynäkologen und anderen medizinischen Fachkräfte haben in den von den Erdbeben betroffenen Gebieten gearbeitet oder arbeiten noch immer dort und tragen dazu bei, dass Geburten für Frauen sicherer werden.
Bedarfsgerechte Empfehlungen
Sowohl auf regionaler Ebene als auch auf Länderebene arbeitet die WHO mit Frauen in den von den Erdbeben betroffenen Gebieten zusammen, um sicherzustellen, dass sie Informationen und Empfehlungen zum Stillen erhalten. Gezielte Maßnahmen und Materialien zur Risikokommunikation werden in direkter Zusammenarbeit mit diesen Frauen entwickelt, um ihre Wahrnehmungen, Bedürfnisse und Sorgen in einer angemessenen Sprache zu berücksichtigen.
Botschaften zum Stillen wurden bisher über digitale Kanäle mit 150 Frauen mit Kindern unter 2 Jahren aus den 10 am stärksten betroffenen Provinzen getestet. Diese Tests sind ein notwendiger Schritt, um sicherzustellen, dass die Botschaften und Materialien bei der Zielgruppe ankommen. Geplant sind auch gemeindenahe Maßnahmen zur Unterstützung stillender Frauen, um die bereitgestellten Empfehlungen für die öffentliche Gesundheit zu unterstützen und aufrechtzuerhalten.