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WHO-Experten warnen: Antibiotika-Missbrauch muss eingedämmt werden, sonst wirken die Medikamente nicht mehr

Neue Daten zeigen, dass ein Drittel der Bevölkerung in 14 Ländern der Europäischen Region der WHO Antibiotika ohne ärztliche Verschreibung konsumiert

23 November 2023
Medienmitteilung
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Kopenhagen, 23. November 2023  

Die WHO stuft antimikrobielle Resistenzen (AMR) als eine der zehn größten globalen Bedrohungen für die öffentliche Gesundheit ein. Weltweit gehen jährlich schätzungsweise 5 Mio. Todesfälle auf bakterielle AMR zurück. Mehr als eine halbe Million dieser Todesfälle treten in der Europäischen Region der WHO auf, die 53 Mitgliedstaaten in Europa und Zentralasien umfasst.  

AMR treten auf, wenn Mikroorganismen eine Resistenz gegenüber den antimikrobiellen Mitteln entwickeln, die normalerweise zu ihrer Abtötung und zur Behandlung von Infektionen eingesetzt werden. Verschiedene Arten von antimikrobiellen Mitteln – wie Antibiotika für Bakterien, Virostatika für Viren und Antimykotika für Pilze – zielen auf bestimmte Arten von Mikroorganismen ab. AMR sind zwar ein natürliches Phänomen, aber die Entwicklung und Ausbreitung von sog. „Superbakterien“ wird durch den unsachgemäßen Einsatz von antimikrobiellen Mitteln beschleunigt, wodurch die wirksame Behandlung von Infektionen erschwert wird.  

Die alarmierende Realität ist, dass AMR ohne sofortiges Eingreifen bis zum Jahr 2050 jährlich bis zu 10 Mio. Todesfälle verursachen könnten. Darüber hinaus sind Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen unverhältnismäßig stark von dieser Last betroffen, was die weltweiten Ungleichheiten im Gesundheitsbereich noch verschärft. 

Neue Daten 

WHO/Europa hat in mehr als einem Dutzend Ländern der Europäischen Region der WHO, namentlich in den Ländern des Westbalkans, im Kaukasus und in Zentralasien (einschließlich der Türkei), eine standardisierte Erhebung durchgeführt, die Aufschluss über Wissen, Einstellungen und Verhaltensweisen in Zusammenhang mit dem Einsatz von Antibiotika und AMR gibt. Die Erhebung ist die erste ihrer Art, die in diesen Ländern durchgeführt wurde, und alle Länder haben die Studie voll unterstützt. 

Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Frontiers veröffentlicht. Bei der Erhebung wurden dieselben Methoden und Fragen verwendet wie bei einer etablierten Umfrage, die regelmäßig in der Europäischen Union (EU) durchgeführt wird. Durch die Durchführung von Erhebungen auf diese Weise, in enger Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission, kann die WHO ihr Ziel erreichen, einen europaweiten Überblick zu erhalten. Dieses klare Bild der aktuellen Situation ermöglicht es, Fortschritte zu überwachen und künftige Maßnahmen zu bewerten. 

An der Erhebung nahmen 8221 Personen aus 14 Ländern teil, von denen die Hälfte angab, in den letzten 12 Monaten orale Antibiotika eingenommen zu haben. Die meisten Antibiotika wurden von Ärzten verschrieben oder direkt verabreicht (67 %). Als Gründe für die Einnahme von Antibiotika wurden u. a. Erkältungen (24 %), grippeähnliche Symptome (16 %), Halsschmerzen (21 %) und Husten (18 %) genannt. Dies ist besorgniserregend, da diese Symptome häufig durch Viren verursacht werden, gegen die Antibiotika nicht wirken. Medizinisches Fachwissen ist unerlässlich, um eine korrekte Diagnose zu stellen und zu ermitteln, ob Antibiotika die richtige Behandlungsmethode sind. 

Die Umfrage zeigte auch, dass es im Hinblick auf die Nutzung einer ärztlichen Verschreibung für jede Antibiotikatherapie an der Durchsetzung mangelt. In den 14 teilnehmenden Ländern hat ein Drittel (33 %) der Befragten Antibiotika ohne ärztliche Verschreibung eingenommen. In einigen Ländern wurden mehr als 40 % der Antibiotika ohne ärztlichen Rat eingenommen. Im Gegensatz dazu ergab die entsprechende 2022 in der EU durchgeführte Umfrage, dass nur 8 % der Befragten Antibiotika ohne ärztliche Verschreibung einnahmen.   

Die Umfrage von WHO/Europa zeigt auch Wissenslücken in der Bevölkerung auf: Nur 16 % der Befragten beantworteten alle vier Fragen zum Thema Bewusstsein richtig. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Menschen Antibiotika aus den falschen Gründen einnehmen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Die Mehrheit der Befragten (67 %) war sich bewusst, dass der unnötige Gebrauch von Antibiotika deren Wirksamkeit beeinträchtigen kann; fast die Hälfte (43 %) gab jedoch fälschlicherweise an, Antibiotika seien gegen Viren wirksam (was nicht der Fall ist).  

Gleichermaßen besorgniserregend ist die Tatsache, dass nur 37 % (und knapp 23 % in der EU-Studie) angaben, im vergangenen Jahr Informationen über die Bedeutung der Vermeidung eines unnötigen Gebrauchs von Antibiotika erhalten zu haben. Dies unterstreicht die dringende Notwendigkeit einer klareren und gezielteren Kommunikation im Bereich der öffentlichen Gesundheit. 

„Diese Untersuchung zeigt deutlich, dass Aufklärung und Bewusstseinsbildung notwendig sind“, erklärte Robb Butler, Direktor der Abteilung Übertragbare Krankheiten, Umwelt und Gesundheit von WHO/Europa. „In allen Ländern unserer Region gibt es Vorschriften zum Schutz wertvoller Antibiotika vor Missbrauch, z. B. das Verbot des rezeptfreien Verkaufs. Die Durchsetzung dieser Vorschriften würde den größten Teil des unsachgemäßen Einsatzes von Antibiotika in der Humanmedizin verhindern.“

Herr Butler fuhr fort: „Andere Triebkräfte von AMR haben ihre Wurzeln in den sozialen und kulturellen Normen, die in den Gemeinschaften erlernt werden, z. B. eine Antibiotikatherapie nicht zu Ende zu führen, um einen Teil der Antibiotika für die nächste Krankheit aufzubewahren, oder Antibiotika mit einem kranken Verwandten oder Nachbarn zu teilen. Es kann einige Zeit dauern, bis sich dieses erlernte Verhalten ändert, und es ist zwingend erforderlich, sich bei der Planung von Maßnahmen verhaltensbezogene und kulturelle Erkenntnisse in vollem Umfang zunutze zu machen.“ 

Verhaltensbezogene und kulturelle Erkenntnisse  

Während die weltweiten Bemühungen zur Bekämpfung von AMR zunehmen, erweisen sich die Sozial- und Verhaltenswissenschaften als wichtige, aber noch nicht ausreichend genutzte Wissens- und Kompetenzbereiche, die Interventionen zur Bekämpfung von AMR leiten und ihre Wirkung radikal erhöhen können.  

„Die Verwendung antimikrobieller Mittel ist untrennbar mit dem menschlichen Verhalten verbunden und tief in sozialen und kulturellen Kontexten verwurzelt, die von unseren Einstellungen, unserer Politik und unseren Wahlmöglichkeiten geprägt sind“, erläuterte Dr. Danilo Lo Fo Wong, Regionalbeauftragter für die Bekämpfung antimikrobieller Resistenzen. 

„Um die Wirksamkeit antimikrobieller Arzneimittel zu erhalten, sind Maßnahmen auf vielen Ebenen erforderlich, z. B. rechtzeitige Impfungen, verbesserte Hygiene und die Reduzierung unangemessener Verschreibungen. Die Verhaltenswissenschaft und die Analyse des kulturellen Kontexts spielen eine zentrale Rolle beim Verständnis von und beim Ansetzen an all diesen Verhaltensweisen. Sie können entscheidende Erkenntnisse über die Hindernisse und Triebkräfte des Verhaltens liefern und so zur Entwicklung wirksamer Interventionen beitragen“, fügte Dr. Lo Fo Wong hinzu. 

„Wir ermutigen und unterstützen die Länder, gezielte verhaltensbezogene Interventionen zu konzipieren und durchzuführen, bei denen sie sich von den in unserem Instrumentarium für maßgeschneiderte AMR-Programme (TAP) bereitgestellten Empfehlungen leiten lassen.“